Es gab schon so einige Tage in meinem Leben, an denen ich mir gewünscht habe, dass Victor Wooten doch lieber Schlagzeuger oder Gitarrist geworden wäre. Wie oft hatte ich schon Angstschweiß auf der Stirn, als Bassschüler von mir „You Can’t Hold No Groove“ oder „Me And My Bassguitar“ lernen wollten. Victor Wooten hat unserem Lieblingsinstrument derart viele neue Facetten hinzugefügt wie vor ihm vermutlich nur Jaco Pastorius. Victor zaubert aus seinen Fodera-Bässen mithilfe eines ganzen Arsenals verschiedenster Spieltechniken Töne hervor, von denen man nicht einmal wusste, dass sie existieren. Der Ausnahmebassist im Portrait.

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Victor Wooten: Die Anfänge
Victor Lemonte Wooten erblickte am 11. September 1964 in Boise, Idaho (USA) das Licht der Welt. Obwohl seine Eltern im Militär waren und die Familie auf einer Air Force Base wohnten, war Victor vom ersten Tag an von Musik umgeben. Dafür sorgten vor allem seine vier älteren Brüder, welche bereits alle ein Instrument spielten. Um eine Familienband zu gründen, fehlte nur noch ein Bassist. Als Victor dann mit zwei (!) Jahren endlich „alt genug“ dafür war, zeigte ihm sein Bruder Reggie die ersten Schritte auf dem Instrument.
Nachdem die ganze Wooten-Familie ihre alte Heimat verlassen und nach Hawaii gezogen war, folgten die ersten ernstzunehmenden Auftritte für die Wooten Brothers. Die Eltern unterstützten ihre Söhne nach Leibeskräften und buchten mitunter sogar die Gigs für ihre Kinder. Mehrere weitere berufsbedingte Umzüge der Familie sorgten für eine Vielzahl an unterschiedlichen musikalischen Einflüssen.
In Virgina wurden die Wooten Brothers gar zu einer Attraktion in einem regionalen Vergnügungspark, wo sie hauptsächlich Bluegrass und Country spielten. In den frühen 80er-Jahren spielte die Band zudem viel im Ausland für die vor Ort stationierten US-Truppen. Diese ersten Tour-Erfahrungen hinterließen bleibenden Eindruck bei den Brüdern.

Victor Wooten: Bela Fleck & The Flecktones
1987 kam es zu einem schicksalsschweren Treffen: Während eines Aufenthalts in Nashville begegnete Victor zum ersten Mal dem Banjospieler Bela Fleck. Die beiden Musiker spürten sofort, dass sie einen guten Draht zueinander hatten und blieben in Kontakt.
Im Jahr 1988 zog Victor nach Nashville und gründete gegen Ende des Jahres mit Bela Fleck, seinem Bruder Roy und Pianist Howard Levy die Band Bela Fleck & The Flecktones. Nicht ohne Folgen: Seither hat die Band elf Studio- und zwei Livealben veröffentlicht, mehrere Welttourneen absolviert und konnte sogar vier Grammy-Auszeichnungen (1997, 2001, 2007, 2009) gewinnen.
Die Gruppe erregte mit den enormen instrumentalen Fähigkeiten der Bandmitglieder und ihrer einzigartigen Mischung aus ganz unterschiedlichen Genres großes Aufsehen. Victor Wooten wurde aufgrund seiner innovativen und spektakulären Spielweise in dieser Zeit zum heimlichen Star der Shows. Stücke wie „Sinister Minister“, „Stomping Grounds“, „Sex In A Pan“ und natürlich die unglaubliche Soloperformance von „Amazing Grace“ machten ihn zum neuen Bass-Superstar.

Victor Wooten: Solokarriere
Zu Beginn dieses Abschnitts sei mir eine kleine persönliche Anekdote erlaubt: Während meines Musikstudiums Ende der 90er-Jahre besaß ein Kollege Victor Wootens Soloalbum „A Show Of Hands“. Wir befinden uns natürlich in der Prä-Internet- und YouTube-Zeit. Ich wusste damals zwar schon von Victor Wootens Existenz, hatte ihn aber noch nie spielen hören und war zu dieser Zeit auch noch stark auf den Kontrabass fokussiert.
Nach dem Hören von „A Show Of Hands“ war ich natürlich von der tollen Musik angetan, andererseits aber auch ein wenig enttäuscht, da ich bis heute kein wirklicher Fan von Bassmusik bin, bei denen mehrere Bassspuren übereinander aufgenommen werden.
Es sollte noch ein wenig länger dauern, bis ich eines Tages die VHS-Kassette „Victor Wooten Live At Bassday 1998“ in die Hände bekam. Und siehe da: Mit einer Mischung aus Begeisterung und blankem Entsetzen musste ich feststellen, dass die vermeintlichen „mehreren Bassspuren“ gleichzeitig ohne ein einziges Overdub von Victor Wooten gespielt wurden. Damals wurde mir schlagartig klar, dass wir uns in Sachen E-Bass in einer neuen Zeitrechnung befinden und das Einzige, was ich damals wusste, war, dass ich nichts wusste!
Nachdem Victor mit Bela Fleck & The Flecktones die Welt der Bassisten gründlich auf den Kopf gestellt hatte, ließ er sich mit seinem Video „Super Solo Bass Techniques“ 1992 zum ersten Mal in die Karten schauen. Bereits nach der ersten Nummer „Classical Thumb“ wusste man, dass man viele Jahre Arbeit vor sich hatte, wollte man diesen Song spielen – und da waren gerade erst einmal die ersten fünf Minuten des Videos vorbei! Aber zum Punkt „Spieltechnik“ kommen wir später noch ausführlich.
Mit dem bereits erwähnten Soloalbum „A Show Of Hands“ machte sich Victor 1996 dann endgültig unsterblich. Die Platte wurde zu einem der wichtigsten Bassalben der Geschichte gekürt – und das wohl mit gutem Recht: Die Mischung aus überragenden technischen Fähigkeiten, Virtuosität, Musikalität und Groove ist einfach in jeglicher Hinsicht beeindruckend. Songs wie „You Can’t Hold No Groove“, „Norwegian Wood“, „Classical Thumb“ oder „Me And My Bassguitar“ gehören bereits heute zu den ganz großen und unsterblichen Bass-Klassikern.
Bis heute folgten noch acht weitere Soloalben sowie mehrere offizielle Konzertmitschnitte, von denen wohl „Live At Bassday 1998“ mit Abstand der wichtigste ist. Victor Wooten gewann in seiner Solokarriere bisher fünf Grammy Awards und wurde mit Auszeichnungen der Fachpresse förmlich überschüttet. Unter anderem wurde vom er „Bass Player Magazine“ dreimal in Folge zum „Bassist Of The Year“ gekürt, und das „Rolling Stone Magazine“ ehrte ihn mit einem Platz in der Top 10 der wichtigsten Bassisten aller Zeiten.
Leider wird Victors Spiel seit über fünfzehn Jahren durch die neurologische Krankheit Fokale Dystonie eingeschränkt. Victor geht jedoch sehr offen mit diesem Thema um, hat sich sein rundum positives Mindset bewahrt, und lässt sich nicht davon abhalten, weiterhin intensiv musikalische Projekte voranzutreiben.

Victor Wooten: Weitere wichtige Projekte
Hier sind noch ein paar wichtige Kooperationen oder musikalische Projekte, in die Victor Wooten involviert war oder ist. Natürlich ist dies nur ein kleiner Einblick in Victors Schaffen, denn er wirkte auf unzähligen Alben wie Konzerten als Gast oder Sideman mit:
- Bass Extremes: Mit seinem Kumpel und Sechssaiter-Fretless-Virtuosen Steve Bailey rief Victor das Trio (inklusive Drummer) Bass Extremes ins Leben – der Name ist Programm! Bisher sind drei Alben erschienen. Zum ersten Album „Cookbook“ von 1998 ist ein Buch mit Transkriptionen und ein Video eines Konzerts erschienen.
- The Wooten Brothers: Auch mit seinen Brüdern macht Victor nach wie vor Musik. Erst 2023 erschien eine neue Single und es wurde ein neues Studioalbum angekündigt.
- Henderson/Smith/Wooten – Vital Tech Tones: Trio mit Gitarrist Scott Henderson und Drummer Steve Smith
- SMV: Trio mit Stanley Clarke und Marcus Miller. 2008 erschien mit „Thunder“ das bisher einzige Album. Die gemeinsamen Livekonzerte auf internationalen Jazzbühnen sind heiß begehrt – Bass-Power pur!
- Trio mit Gitarrist Greg Howe und Drummer Dennis Chambers, Album „Extraction“ (2003)
- Trio mit Saxophonist Bob Franceschini und Drummer Dennis Chambers, Album „Trypnotyx“ (2017)
- 2022 wirkte Victor Wooten auf dem Album „Power Station“ des Vulfpeck-Gitarristen Cory Wong mit und begleitete ihn auf Tournee
- weitere Kooperationen mit Mike Stern, Bill Evans, Larry Graham, Prince …
Victor Wooten: Unterricht
Victor Wooten hat sich schon relativ früh dafür entschieden, nicht nur als Live- und Studiomusiker zu arbeiten, sondern auch, sein umfassendes Wissen bereitwillig weiterzugeben. Dies bezieht er neben spieltechnischen Aspekten explizit auch auf seine Spiritualität, Philosophie und Sichtweise im Bezug auf Musik im Allgemeinen. Wooten hat eine ebenso ruhige wie mitreißende Art, Wissen zu vermitteln; als Zuhörer hängt man förmlich an seinen Lippen. Mittlerweile sind mehrere Lehrbücher und Lehrvideos von ihm erschienen, welche allesamt sehr empfehlenswert sind:
- Bass Extremes (mit Steve Bailey, Songbook)
- Bass Extremes (mit Steve Bailey; Video)
- Super Bass Solo Technique (Video)
- Groove Workshop (Video)
- Victor Wooten & Carter Beauford Workshop (Video)
- Live At Bassday 1998 (Video)
- Best Of Victor Wooten (Songbook)
- The Music Lesson (Roman)
- Verschiedene Lehrvideos auf seiner Webseite
Seit 26 Jahren betreibt Victor außerdem das “Vixcamp”. Dieser Workshop hat sich mittlerweile zu einem mehrtägigen Event für unterschiedliche Instrumente entwickelt. Dabei wird ein ganzheitlicher Ansatz verfolgt, der Körper und Geist gleichermaßen ansprechen soll. Nicht nur Musik, sondern auch andere Aspekte wie Spiritualität und Natur spielen dabei eine große Rolle. Dazu gehört das Übernachten im Freien genauso wie Kurse im Lesen von Tierspuren.
Die Liste der Gastdozenten gleicht mittlerweile einem „Who Is Who“ der Musikszene. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bekommen Lessons von Victor selbst, Billy Sheehan, Adam Nitti, Alphonso Johnson, Andy Irvine, Anthony Jackson, Bill Dickens, Christian McBride, Cody Wright, Esperanza Spalding, Gary Grainger, Gerald Veasley, Jeff Berlin, John Patitucci, Marcus Miller, Mohini Dey, Nate Watts, Richard Bona, Stanley Clarke, Stu Hamm, Will Lee etc.

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Victor Wooten: Musikalischer Stil
Victor Wooten nutzt ein riesiges Arsenal an unterschiedlichen Techniken, welche fließend ineinander übergehen. Nicht weniger fließend wechselt er zwischen Groove, Akkorden und Melodien. Der E-Bass scheint einfach eine natürliche Erweiterung seines Körpers zu sein – Grenzen scheint es nicht zu geben! Sein Spiel kann man im ausschließlich positiven Sinne als „spektakulär“ bezeichnen. Für mich ist aber noch beeindruckender, dass er seine Virtuosität zu jeder Zeit mit einem umwerfenden Groove paart.
Hier findet ihr einige Stichpunkte zu Victors Personalstil:
- Starkes Backbeat Feeling bzw. „Pocket“
- Wechselschlag mit Zeige- und Mittelfinger
- Palm Mute Technik mit vielen perkussiven, akkordischen und melodischen Elementen
- Two Hand Tapping, sowohl akkordisch wie auch melodisch
- Double Thumb Technik
- Double oder Triple Pluck Technik
- Virtuose Slaptechnik
- Open Hammer Pluck in verschiedenen Kombinationen
- Flageoletts, um Akkorde darzustellen, gerne in Verbindung mit Palm Mute
- Häufiger Einsatz von drei- oder vierstimmigen Akkorden
- Häufiger Einsatz von Leersaiten als perkussives Element
- Häufiger Einsatz von Dur- oder Dur-Pentatonik bzw. Bluestonleiter

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Victor Wooten: Equipment
Wie immer gibt es beim Thema Equipment keinen Anspruch auf Vollständigkeit, denn im Laufe einer mehrere Jahrzehnte dauernden Karriere hat Victor natürlich so einiges in den Fingern gehabt.
Bässe:
- Fodera Monarch Bass von 1983
- Fodera Monarch Tenor Bass (Tuning A-D-G-C)
- Diverse Fodera Monarch Bässe
- Diverse Fodera Yin Yang Bässe
- Fodera NYC Empire 5
- Compito 5-Saiter Fretless
- Conklin Guitars Victor Wooten Mobile Electric Upright Bass
- Taylor AB-1 Acoustic Electric Bass








Verstärker:
- A/DA MB-1 Preamp
- Ampeg SVT-4PRO
- Ampeg BXT410HL4
- Diverse weitere Ampeg-Topteile, -Boxen und -Basscombos
- Hartke LH1000-Topteil
- Hartke HyDrive HX410 4×10-Box
- Hartke HyDrive HX115 1×15-Box
- Hartke TX600-Topteil








Saiten:
- DR Pure Blues 0.40-100


Effekte:
Zwar ist Victor immer mal wieder mit diversen Pedalen (u. a. von Rodenberg, EBS, MXR, 3Leaf Audio …) und Multieffekten (z. B. von BOSS oder ZOOM) zu sehen, doch keines davon ist ein integraler Bestandteil seines Sounds. Bis auf die Kooperation mit dem deutschen Hersteller Rodenberg scheint es auch keine langfristigen Endorsements in Sachen Effektpedale zu geben. Ich vermute, Victor nutzt wahrscheinlich das, was gerade verfügbar ist und für ihn musikalisch Sinn macht. Und wie bereits erwähnt: Kein Effekt ist wirklich entscheidend für seinen Sound.
Hut ab vor dieser unglaublichen Leistung und Karriere, Victor – wir freuen uns auf viele weitere kreative Jahre!
Thomas Meinlschmidt
