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Was sagen die Charts heutzutage noch aus?

Früher spiegelten die Charts die aktuell beliebtesten Lieder im Lande relativ gut wieder. Durch den Vormarsch des Musik-Streamings haben sich die Bedingungen allerdings geändert. Haben Charts heute überhaupt noch eine Aussagekraft? 

© ComicSans / Shutterstock
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Als bei langen Autofahrten die Hitparade rauf und runterspielte, wusste man gleich was “en vogue” ist. Wenn ‘Love The Way You Lie’ von Rihanna & Eminem (42 Wochen in deutschen Charts), ‘Alors On Danse’ von Stromae (59 Wochen) oder ‘Tik Tok’ von Kesha (49 Wochen) spielten, war der Ohrwurm vorprogrammiert. Das waren mit die erfolgreichsten Lieder im deutschsprachigen Raum 2010. Wenn man sich die Charts 2020 ansieht, erkennt man eine große Veränderung. Dominierten früher internationale Rockbands und Popstars die Spitzenplätze, sind es jetzt auf einmal Ufo361, 24kGoldn oder Apache 207 ganz vorne mit dabei. Hat die Wandlung einfach mit veränderten Hörgewohnheiten zu tun oder basiert der Wandel eher auf der veränderten Musikindustrie durch Streaming? Um die Charts besser zu verstehen, blicken wir erst einmal auf die Funktionsweise.

Wie funktionieren Charts heutzutage?

Die offiziellen deutschen Musikcharts werden jede Woche von Freitag bis Donnerstag durch das Marktforschungsunternehmen GfK Entertainment ermittelt. Dabei werden die realen Verkaufszahlen bzw. der getätigte Umsatz von rund 2.800 Musikanbietern, wie Händler oder Streamingplattformen, zur Chartermittlung herangezogen. Ein Großteil der Händler melden dabei ihre Verkaufszahlen an die GfK. Die Marktabdeckung beträgt über 90 Prozent. Berücksichtigt wird dabei sowohl der kleine Plattenladen in Kreuzberg als auch große Elektromärkte wie Saturn oder Media Markt. Neben dem stationären Handel werden auch die Verkaufszahlen von Online-Shops wie Apple Music oder Amazon mitgezählt. Als letzter wichtiger Zweig fliesen Streamingzahlen mit in die Berechnung ein. Mittlerweile wird ein Großteil der Musikumsätze in Deutschland mit Musikstreaming gemacht, weshalb der Einfluss auf die Charts auch immer größer wird. Bei den Single- und Album-Charts werden alle Premium-Streams, also von zahlenden Streamingkunden, ab einer Spieldauer von 31 Sekunden gezählt. Seit Dezember 2020 gibt es ein Comeback des Radios. Für die Single-Charts fliesen auch Radio-Plays in die Wertung. 
Die Daten werden im Auftrag des Bundesverbandes Musikindustrie e.V. auf elektronischer Basis übermittelt. Über da System PHONONET werden Verkäufe an Endkonsumenten, Artikelnummern, Anzahl verkaufter Tonträger pro Kassenbon, Verkaufspreise, Verkaufsdatum und die Tageszeit beim Kauf von den teilnehmenden Händler eingetragen. Die Daten werden dann anonymisiert an GfK Entertainment weitergeleitet. Ebenfalls anonym übertragen werden die Downloads und Streams von den jeweiligen Online-Anbietern wie Spotify oder Beatport. Nicht integriert werden allerdings Video-Streams, obwohl  Video-Plattformen wie Youtube einer der Hauptquellen für den Musikkonsum sind. Im deutschsprachigen Raum dominieren dabei Musikvideos von Rappern schnell die Trends und erzielen in wenigen Tagen Millionen Aufrufe. 

Wie werden Streams gezählt?

Bis 2007 wurden die absoluten Verkaufszahlen für die Ermittlung der Charts herangezogen. Danach wurde das System zu sogenannten Werte-Charts umgestellt. Seitdem wird das Lied/Album welches am meisten Umsatz generiert am besten platziert. Die Umstellung wurde aufgrund der immer bedeutenderen Online-Umsätzen vollzogen. Hier stellt sich natürlich die Frage, wie viel Wert einem Stream beigemessen wird. 
Bei der Ermittlung des Wertes von Musikstreams werden lediglich Streams von bezahlungspflichtigen Anbietern bzw. Streams von bezahlten Accoutns auf Hybrid-Plattformen berücksichtigt. Werbefinanzierte Streams, also z.B. bei der Nutzung der Gratis-Version von Spotify, werden ignoriert. Ebenfalls nicht relevant sind “nicht-interaktive”-Streams, also Streams bei denen die Nutzer einen Song nicht selber ausgewählt haben. Damit entfallen Lieder aus der Wertung, die durch algorithmischem Wege oder Playlists erreicht werden. Gewertet werden daher nur von Nutzer ausgewählte Lieder auf bezahlungspflichtigen Plattformen, die länge als 31 Sekunden abgespielt werden. Für die Berechnung wird die Anzahl der deutschen Premium-Accounts mit dem durchschnittlichen Premium-Abo-Preis multipliziert und durch die Anzahl der Streams der Premium-Nutzer geteilt. Der dabei errechnete Umsatz pro Song fließt dann in die Chart-Ermittlung ein. 
Bei Alben verhält es sich etwas anders. Hier werden die zwölf am meisten gespielte Lieder eines Albums berücksichtigt. Damit einzelne Songs allerdings nicht die Album-Wertung zu stark beeinflussen, werden die zwei meistgespielten Lieder eines Albums nicht mit den tatsächlichen Streams berücksichtigt. Stattdessen gehen sie nur mit der durchschnittlichen Menge der zehn folgenden Tracks in die Bewertung ein. Die Rechnung sieht dabei wie folgt aus: Track 3 bis 12 wird mit 12 multipliziert. Das Ergebnis wird durch 10 geteilt und anschließend mit dem Wert pro Stream multipliziert. Am Ende werden bei Charts die einzelne Umsätze aus den verschiedenen technischen Konfigurationen ( CD, DVD-Single, Download-Track, Download-Single, Stream, etc. ) addiert.
Die Einbeziehung von Streams hat hierbei einen interessanten Effekt, den es so früher nicht gab. Spotify bietet z.B. über 60 Millionen Songs an. Durch die große Auswahl wird daher auch viel “Nischen”-Musik gehört, die es nie in die Charts schaffen würde. Da allerdings durch alle Streams der Premium-Nutzer dividiert wird, fällt so der Umsatz für einzelne Songs verhältnismäßig niedriger aus, als wenn man nur zwischen 1000 Songs in einem Geschäft aussuchen könnte.

© Bundesverband Musikindustrie e.V
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Streams lassen sich leicht manipulieren

2019 ging ein Beitrag von Y-Kollektiv auf Youtube (siehe Video) durch die Decke. Darin wird erzählt wie sich Rapper in die Charts einkaufen können. Es gibt Dienstleister die Spotify- und Apple-Streams gegen Geld anbieten. Die Anbieter sind im Besitz von tausenden Musikstreaming-Accounts und lassen Programme im Hintergrund laufen, durch die automatisch ohne Pause gestreamt wird. Im Video von Y-Kollektiv wurde so ein Anbieter anonym interviewt, der angeblich 150.000-250.000 Spotify-Accounts zur Verfügung hat und so ausgewählte Musik pushen kann. Laut dem Insider reichen dabei 50.000 Euro aus um sich eine Goldene Schallplatte zu erkaufen. 
Laut dem Insider geschieht dies in Deutschland vor allem im Rap-Business, wodurch auch unbescholtene Rapper profitieren. Damit die Streaming-Farmen auf Spotify nicht so einfach identifiziert werden können, werden auch ähnliche Songs aus dem selben Genre gestreamt. Die hohe Anzahl an Streams führt dann in vielen Fällen dazu, dass die Tracks in den großen Spotify-Playlisten aufgenommen werden. Ab dem Zeitpunkt werden dann viele Lieder, die an sich nicht besonders erscheinen, zu Selbstläufern. Laut dem Insider werden außerdem viele Songs absichtlich extrem kurz (unter 3 Minuten) gehalten, damit sie öfter durchlaufen können und dadurch mehr Streams bekommen. Wenn das künstlerische Produkt nur Mittel zum Zweck wird.
Laut der GfK gab es zwar schon öfter Hinweise auf Manipulationen, allerdings konnte das meist nicht bewiesen werden. Daher wurden nur in Einzelfällen Künstler bzw. Songs aus den Charts entfernt. Immerhin gab es im letzten Jahr etwas Bewegung in diesem Gebiet. So wurde es fünf Anbietern von solchen Klick-Services verboten ihre Dienste weiter anzubieten. 

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Große Diskrepanz zwischen Alben und Singles

Wenn man die Wertungen der Single- und Albumcharts betrachtet, merkt man schnell einen Unterschied in den Genres. Die Erklärung erscheint einfach: ältere Personen kaufen sich eher noch physische Alben als jüngere. Und jüngere Menschen streamen mehr als ältere Menschen. Laut Studien lässt der Entdeckungsdrang im Alter nach, ältere Menschen neigen eher dazu altbewährtes wieder zu hören. Da liegt es nahe, dass relativ neue subkulturelle Erscheinungen wie “Gangster-Rap” eher von jüngeren Menschen gehört wird. Anders verhält es sich da schon bei Schlager, Rock oder Popmusik. Bei einem Blick auf die Charts von Anfang Mai sieht man schnell die Unterschiede. Bei den Alben sind John Lennon, Sarah Lombardi und Rosenstolz vorne dabei. Bei den Singlecharts ist viel mehr elektronische Musik und Rap zu finden: Katja Krasevice (Nr. 1), Nathan Evans, Lil Nas X, Miksu/Macloud, etc. 

Was sagen Charts nun aus? 

Wenn Charts den Anspruch haben sollen, die aktuellen Hörgewohnheiten von Deutschland bestmöglich abzubilden, scheitern sie immer stärker. Das liegt größtenteils einfach an den unzähligen Musikangeboten im Internet. Bei Youtube haben selbst deutsche Songs oft schon zweistellige Millionenaufrufe. Videoklicks werden allerdings nicht mitgezählt, weshalb hier schon einmal ein riesiger Bereich wegfällt. Für viele Menschen ist Youtube einer der Hauptquellen für den Musikkonsum. Auch andere Streaming-Plattformen wie Soundcloud oder Tidal werden nicht berücksichtigt. 
Das nächste Problem ist die Manipulation von Streaming-Zahlen. Dass ist im stationären Handel schwer machbar, bei Online-Streams gibt es allerdings viele Möglichkeiten gegen Geld Erfolg zu kaufen. Der Insider im oberen Video meinte stolz, dass er für Manager der größten Rapper gearbeitet habe und im Monat 6-stellige Umsätze lukriere. Das Investment in gekaufte Streamingzahlen scheint sich zu rentieren, auf dubiosen Webseiten ist eine Zahlung von gerade einmal 1.500 Euro für 1 Millionen Klicks notwendig. Damit ist man schnell einmal in den Charts vertreten. Selbst große Künstler wie Justin Bieber haben schon ihre Fans aufgefordert, auch in der Nacht das neue Album durchzustreamen. 
Ein weiterer wichtiger Faktor sind die Algorithmen und Vorschläge von Streaminganbietern. Früher ging man in den Laden um sich einen Song von seinem Artist zu kaufen. Dafür war eine proaktive Handlung notwendig. Heute werden einen durch Playlists, Song-Radio oder Mix der Woche auf Spotify unzählige andere Tracks aus einem ähnlichen Musikbereich vorgeschlagen. Die Algorithmen verstehen die Hörgewohnheiten der Nutzer immer besser, weshalb die Vorschläge oft so gut sind, dass schnell einmal die Schwelle von 31 Sekunden beim Abspielen eines neuen Tracks übertroffen wird. Dem Nutzer ist es da meist egal, von wem der Song kommt. Durch die Automatisierung haben daher Algorithmen mehr Mitsprache über das Hörverhalten als aktive Handlungen des Nutzers. 
Auch die Zahlen zu MP3-Downloads müssen nicht viel aussagen. Viele Nutzer laden sich Lieder illegal durch Filesharing herunter. Dies passiert überproportional oft bei jüngeren Hörern, die dadurch nicht in die Wertung mit einfließen. 

Die Interessen der Musikhörer werden genauer, die Charts (noch) nicht 

Wir befinden uns aufgrund der Möglichkeiten der neuartigen Technik in einer interessanten Situation. Durch Streaming und MP3-Downloads ist es heute einfacher denn je an eine Fülle an Daten zu gelangen. Man kann genau ermitteln, wie oft, wie lange, zu welchem Zeitpunkt, etc. bestimmte Musik gehört wird. Am Ende sagen uns die vielen Daten auch wie oft auf ein Song geklickt wurde, auf welche Weise diese Klicks zustande gekommen sind wissen wir aber nicht.
Früher war das Musikangebot viel begrenzter als heute. Für viele waren das Radio und Fernseher, später dann die Kassette, die einzigen Quellen um Musik zu Hause zu hören. Dadurch hatten die wenigen Sender viel Einfluss darauf, was die Leute gehört haben. Entsprechend waren die Hörgewohnheiten stark fremdbestimmt. Das hat sich durch neue Medien und Formate, von CD bis hin zu MP3, stark geändert.
Durch die Personalisierung im Musikstreaming haben sich die Bedingungen zuletzt wieder stark gedreht. Die neuartigen Algorithmen basieren auf unzähligen persönlichen Daten und können den eigenen Musikgeschmack und Hörgewohnheiten formen wie es zuletzt vor vielen Jahrzehnten möglich war. Die Vorschläge für Musik werden immer besser, wodurch Nutzer schnell in ihrer “Genre-Bubble” gefangen gehalten werden. Streaming spiegelt unsere Interessen beim Musikgeschmack letztlich aber besser wieder als das jemals zuvor möglich war. Eines hat sich durch Streamingangebote in jedem Fall geändert: Es gibt eine neue Inspirationsquelle. Die unzähligen Playlists in jedem Genre, die personalisieren Vorschläge, die vielen aufgezeichneten Livesets, Mixes, etc., so eine Vielfalt gab es noch nie. Damit haben Streaminganbieter den Charts etwas weggenommen. Es gibt kaum noch Leute die die Charts nutzen, um neue Musik zu finden oder um zu sehen was gerade “in Mode” ist. Daher haben die Charts eine einst wichtige Aufgabe verloren. Das lässt folgenden Schluss zu:
Charts haben durch die Personalisierung im Streaming an Relevanz verloren. 
Die Möglichkeiten die echten Interessen von deutschen Musikhörern wiederzugeben sind so groß wie nie zuvor. Da derzeit allerdings nur rund 57% der erwachsenen Bevölkerung überhaupt Musikstreaming nutzen, viele Streaming-Plattformen bei den Charts nicht berücksichtigt werden und die Streams leicht zu manipulieren sind, erscheint folgendes Fazit als naheliegend: Wir hätten zwar die technologische Möglichkeiten mit den Charts die Hörgewohnheiten so genau wie nie zuvor zu bestimmen. Aufgrund der Nichtberücksichtigung von wichtigen Datenquellen, der nicht vollzogenen Differenzierung zwischen proaktiven und passiven Hörern und möglichen Manipulationen von digitalen Daten, sagen die Charts heutzutage kaum noch etwas aus, obwohl sie das durchaus könnten. 

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Verence sagt:

#1 - 07.05.2023 um 16:16 Uhr

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Ja Musikgeschmack ist bekanntlich schwierig zu bewerten , wenn ich mal bei Apple music die Charts durchgehe bin ich verwundert was da zu finden ist. Nicht ein Song der mir gefällt geschweige wirklich packt. Liegt es an mir? Werde ich alt oder altmodisch? Ich würde mein Musikgeschmack als sehr breitgefächertes beschreiben wenn auch mit einem Fokus auf Electronic/ Synthie . Aber nein für mich ist da nichts dabei um nicht zu sagen das es mir Schauer der Abscheu über den Rücken jagt. Ein Glück das ich mir meine eigenen Charts machen kann.

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