Mit Guitar Chord Colours hat Wieland Harms eine umfangreiche Harmonielehre speziell für Gitarristen verfasst, die auch als Ergänzung zum Vorgänger „Guitar Scale Colours“ verstanden werden kann. Der Autor gibt sich in dem 400 Seiten starken Werk jedoch nicht mit trockenen Erklärungen zufrieden, sondern bringt alle Sachverhalte unmittelbar auf das Instrument. Damit richtet sich das Buch an alle, die einen schnellen Praxisbezug suchen, und adressiert ambitionierte Einsteiger genauso wie Fortgeschrittene. Wir haben uns Guitar Chord Colours einmal genauer angesehen.



Gute Basiserklärungen im ersten Kapitel
Insgesamt teilt sich Guitar Chord Colours in vier große Kapitel auf. Nach einem kurzen Vorwort, in dem Harms sowohl die für ihn wegweisendsten Künstler aus Jazz, Rock und Pop als auch einige Standardwerke der Harmonielehre erwähnt, steigt das Buch mit dem ersten Kapitel „Vom Ton zum Tonsystem“ unmittelbar ins Thema ein. Behandelt werden hier die Dur-Tonleiter ebenso wie die Obertonreihe.
Besonders spannend ist das Unterkapitel über Flageolett-Töne, das viele praktische Anregungen liefert, die man dank der gelungenen Beispiele sofort ins eigene Spiel übernehmen kann. Bereits an dieser Stelle fällt positiv auf, dass die Übungen mit Audiofiles sowie in Notenschrift und Tabulatur präsentiert werden: Ganz klar handelt es sich hier um ein Arbeitsbuch, das man definitiv mit dem Instrument in der Hand beackern sollte.
Auch gitarrenspezifische Aspekte wie Stimmtechniken oder die Oktavreinheit kommen nicht zu kurz. Darüber hinaus widmet sich Harms ausführlich den Intervallen, verbindet diese mit Tipps zur Gehörbildung und zeigt anschaulich deren Umsetzung auf dem Griffbrett. Auch das Thema Zweistimmigkeit erhält einen großen Abschnitt, der durch Beispielsongs und kleine Aufgaben ergänzt wird. So bleibt das Lernen abwechslungsreich und praxisnah. Abgerundet wird das Kapitel durch eine Einführung in die Pentatonik sowie das CAGED-System.

Themen wie Akkorde, Tonleitern und Kadenzen werden mit tollen Praxisbeispielen unterfüttert
Das zweite Kapitel „Akkorde, Kadenzen und Tonalität“ beginnt mit einer Einführung in Dreiklänge und deren Umkehrungen, die durch zahlreiche Übungen und praxisbezogene Beispiele vertieft wird. Anschließend geht es zu Vierklangstrukturen, wobei neben den klassischen Close-Positions auch die für Gitarristen besonders relevanten Drop-2- und Drop-3-Voicings ausführlich behandelt werden. Ergänzend kommen Akkordalterationen, verminderte Akkorde, Added-Note-Chords sowie Leersaitenakkorde zur Sprache. Darauf folgt die Darstellung der Kirchentonarten sowie der harmonischen und melodischen Mollskalen – stets mit Hinweis auf deren praktische Verwendung in Progressionen.
Von hier aus schlägt Harms den Bogen zur Funktionstheorie und zu den Kadenzen sowie zum Blues und der Reharmonisation. Wieder überzeugt das Werk durch seine konsequente Praxisnähe, die nicht nur theoretisches Verständnis vermittelt, sondern auch klangliche Assoziationen schafft. Besonders hervorzuheben ist die Art, wie Harms Begriffe, Beispiele und Konzepte der klassischen Harmonielehre mit jenen aus Pop- und Jazztheorie verknüpft. Diese Verbindung sorgt für eine ungewöhnlich breite Perspektive, die in vielen anderen Harmonielehren etwas untergeht. Die zahlreichen Übungen erweisen sich dabei als äußerst hilfreich und machen Guitar Chord Colours zu einem wertvollen Workbook.
Zum Abschluss stellt Harms harmonische Bearbeitungen und die sogenannten Embellishments vor – Verzierungstechniken, die etwa das Spiel von Jimi Hendrix so lebendig klingen ließen. Die Praxisbeispiele schlagen hier einen weiten Bogen von Pop über Blues bis hin zu Latin und Jazz.

Im 3. Kapitel werden moderne Konzepte und Tonmaterialien vorgestellt
Im Kapitel „Ausweitung und Auflösung der Tonalität“ widmet sich Harms einer Reihe fortgeschrittener Themen in bemerkenswerter Tiefe. Behandelt werden Modulationstechniken, Mediantik, Outside-Spiel sowie ein Abschnitt zur Negativen Harmonie – einem Konzept, das durch Jacob Colliers Videos neue Aufmerksamkeit erfahren hat. Darüber hinaus stellt der Autor weitere Tonleitersysteme vor, darunter Gypsy Minor, Harmonisch Dur, gängige symmetrische Skalen und sogar die Messiaen Modes. Auch das Spiel über Jazzstandards und den Blues erhält einen breiteren Raum und die vorgestellten Improvisationsansätze lassen sich mithilfe der beigefügten Jam Tracks direkt praktisch umsetzen.
Besonders nützlich sind die zahlreichen Tipps zu Superimpositions von Arpeggien oder Pentatoniken, zu Skalensequenzen und Licks – Werkzeuge, die beim Aufbau eines umfangreichen Improvisationsvokabulars enorm helfen. Darüber hinaus greift das Kapitel weitere Bereiche auf wie modales Spiel, Quartvoicings, Slash Chords, Upper Structures sowie das breite Feld der Reharmonisation.
Zum Abschluss kommen inspirierende Songbeispiele
Das Kapitel „Harmonische Analyse und Synthese“ inspiriert zu kreativem Arbeiten und behandelt neben der Analyse auch die Harmonisation von Melodien. Anhand einer II–V–I-Kadenz werden zunächst verschiedene Satztechniken vorgestellt. Im Anschluss bietet der Autor eine Vielzahl von Stücken, die zunächst jeweils als einfaches Leadsheet mit einstimmigem Thema erscheinen. Diese Vorlagen laden den Leser dazu ein, eigene Harmonisationsversuche zu unternehmen, bevor das Buch eine ausgearbeitete Analyse, eine ausgesetzte Version und teilweise sogar Beispielsoli präsentiert.
Die Bearbeitungen sind geschmackvoll gestaltet und zeichnen sich durch zahlreiche spannende Wendungen aus, die zum eigenen Experimentieren anregen. Abgerundet wird das Werk durch ein umfangreiches Glossar sowie ein Personenverzeichnis.
Fazit
Guitar Chord Colours von Wieland Harms ist eine äußerst durchdachte und umfassende Harmonielehre speziell für Gitarristen. Der Autor zeigt den Mut, einen eigenständigen und erfrischend neuen Ansatz zu verfolgen, wodurch sich das Werk klar von herkömmlichen Theoriebüchern abhebt. Aufbau und Inhalt sind dabei konsequent auf ein Ziel ausgerichtet: die direkte Anwendbarkeit auf dem Instrument.
Die besondere Stärke des Buches liegt damit im starken Praxisbezug. „Use it or lose it“ ist das Motto! Harmonielehre wird hier nicht als Selbstzweck, sondern als inspirierende Farbpalette verstanden, die dem Spieler neue Ausdrucksmöglichkeiten eröffnen kann. Wer Musiktheorie bisher als trocken oder schwerfällig empfand, wird durch die zahlreichen Klangbeispiele selbst in komplexe Themen sanft eingeführt – stets begleitet von einer sofortigen Spiel- bzw. Hör-Erfahrung, die das Lernen lebendig macht und klangliche Assoziationen schafft.
Ebenfalls positiv hervorzuheben ist die stilistische Offenheit des Buches. Ganz gleich, ob Pop, Rock, Klassik, Jazz oder genreübergreifende Fusion: Das Werk liefert wertvolle Schlüssel für jede Richtung. Auch die grafische Gestaltung überzeugt, das Notenbild wirkt übersichtlich und einladend.
Ein kleiner Kritikpunkt betrifft die Klangbeispiele, die ausschließlich in MIDI-generierter Form vorliegen. Eine reale Gitarrenaufnahme wäre hier klanglich ansprechender gewesen. Zeitgemäß ist jedoch, dass die Beispiele außer auf der beiliegenden CD zusätzlich auch als MP3-Download angeboten werden – ein klarer Vorteil in Zeiten von Computern ohne CD-Laufwerke. Insgesamt ist Guitar Chord Colours ein extrem inspirierendes und praxisnahes Arbeitsbuch, das sich besonders für fortgeschrittene Gitarristen eignet, aber auch ambitionierten Einsteigern wertvolle Impulse gibt – vorausgesetzt, man ist bereit, sich intensiver mit Musik auseinanderzusetzen.



- Autor: Wieland Harms
- Herausgeber: Alfred Music Publishing GmbH
- Umfang: 400 Seiten
- Format: 21 x 29,7 cm
- Sprache: Deutsch
- Medien: CD, über Website via Passwort abrufbare Audios
- Preis (Verkaufspreis September 2025): 49,95 Euro
Herstellerseite: https://www.alfred.com/guitar-chord-colours/p/00-20291G/