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Physis Piano H1 Test

Mit dem Physis Piano H1 möchte sich der italienische Hersteller Viscount einen Platz in der obersten Liga der Digitalpianos sichern. Ein Blick auf den Preis und die Ausstattung offenbart, dass dieses Instrument höchsten Ansprüchen gerecht werden soll. Unter der Haube steckt eine Klangerzeugung, die nicht auf Samples, sondern auf Physical Modeling basiert. Was man damit alles anstellen kann, haben wir getestet.

Physis Piano H1: Mit Physical Modeling in die Oberklasse?
Das Physis Piano H1: Klang und Tastatur überzeugen, die Bedienung leider weniger


Das Bedienkonzept des Physis Piano wirkt ebenso futuristisch wie ungewöhnlich, denn auf der gläsernen Oberfläche finden sich weder Taster noch Potis oder Fader. Das lässt vermuten, dass sich unter dem schwarzen Glas ein Interface verbirgt, das dem eines Smartphones oder Tablets ähnelt. Doch soviel vorweg: Dafür liegen Cupertino und Rimini vielleicht doch zu weit auseinander.

Details

Konzept

Wer ein Digitalpiano im Wert von 4.000,- Euro erwirbt, der meint es wirklich ernst. Also hat sich der traditionsreiche Instrumentenbauer Viscount mit ebensolcher Ernsthaftigkeit der Entwicklung des Physis Pianos gewidmet. Laut Hersteller hat man mit Hilfe von drei renommierten italienischen Universitäten sowie etlichen Ingenieuren und Musikern sieben Jahre darauf verwendet, die komplexen physikalischen Eigenschaften akustischer und elektromechanischer (Tasten-) Instrumente zu analysieren und mittels mathematischer Algorithmen zu reproduzieren. Bezeichnet wird dieses Verfahren als Physical Modeling, woraus sich logischer Weise auch der Name Physis Piano ableitet. Das unterscheidet das Physis H1 und auch den kleineren Bruder H2 von fast allen anderen gängigen Digitalpianos, deren Klangerzeugung bis heute größtenteils samplebasiert ist. Eine Ausnahme bildet Rolands V-Piano, das bereits vor vier Jahren auf den Markt kam und ein vergleichbares Konzept verfolgt. Das CP1 von Yamaha verbindet Physical Modeling mit Sampletechnologie.
Während ein Sample in seiner Beschaffenheit unveränderlich ist, setzt das Physical Modeling woanders an: Die Sounds werden nicht mit Hilfe vorher aufgenommener Einzeltöne (Samples) erzeugt, sondern in Echtzeit errechnet. Unter der Haube des Physis Pianos werkeln zu diesem Zweck sechs Dual Core Prozessoren, die das Schwingungsverhalten von Flügeln, E-Pianos oder Mallet-Instrumenten als eine Verkettung von unzähligen miteinander verknüpften Formeln begreifen und daraus den Klang in seinem gesamten Detailreichtum generieren – und zwar mit bis zu 24 Billionen Berechnungen pro Sekunde. Das hat mehrere Vorteile: Die Klangerzeugung verzichtet vollständig auf Loops oder Velocity-Switches und soll dadurch natürlicher wirken. Außerdem sind die unvermeidbaren Artefakte, die sich z.B. aus dem Zusammenspiel von mitschwingenden Klaviersaiten, der Mechanik und dem Resonanzboden ergeben, authentischer zu reproduzieren. Und nicht zuletzt kann der Benutzer sich sein Wunschinstrument bauen, indem er alle Komponenten selbst auswählt. Der Flügel soll etwas kleiner sein? Die Hämmer etwas weicher, die Saiten etwas straffer, die Dämpfer etwas größer? Mit dem Physis Piano ist dies alles frei konfigurierbar.

Fotostrecke: 7 Bilder Mit seinem Glas-Bedienfeld wirkt das Physis Piano H1 sehr modern

Äußeres und Anschlüsse

Das schlanke Gehäuse ist aus gebürstetem Aluminium gefertigt, lediglich die Seitenteile sind aus Kunststoff und die Unterseite aus Holz. Die bereits erwähnte gläserne Oberfläche erstreckt sich nahezu über die gesamte Breite und wird von zwei silbernen Alu-Schienen umrahmt, roter Samt markiert den Übergang zur Holztastatur. Das alles wirkt sehr edel und schnörkellos. Mit 27kg bringt das Piano ein stattliches Gewicht auf die Waage – dankenswerter Weise hat man in die Seitenteile Griffmulden eingelassen, die das Handling erleichtern. Mit zwei verschiedenen, optional erhältlichen Ständern kann das Physis Piano H1 Wohnzimmer-tauglich gemacht werden.
Vorn links lassen sich ein Kopfhörer und ein USB-Stick einstecken, zahlreiche weitere Anschlüsse finden sich auf der Rückseite: je ein symmetrisches und ein unsymmetrisches Ausgangspaar (XLR und Klinke), massenhaft Pedal-Eingänge (zwei Control-Pedals, Sustain, Sostenuto, Soft), USB to Host, Digital-Out, MIDI-Trio, ein elfpoliger Anschluss für die optional erhältliche Triple-Pedaleinheit und die Buchse für den Netzstecker neben dem Power-Knopf (dem einzigen vorhandenen Schalter am gesamten Gehäuse). Bemängeln könnte man lediglich das Fehlen eines Audioeingangs.

Multi-Touch-Panel und Tastatur

Nach dem Einschalten braucht das H1 über 70 Sekunden, bis es betriebsbereit ist. Das ist eine lange Zeit, die einem nach einem Stromausfall auf der Bühne auch mal wie eine halbe Ewigkeit vorkommen kann. Darüber täuscht auch nicht der kleine Pinguin hinweg, der im Display erscheint, während das Betriebssystem hochfährt. Praktischerweise gibt es aber eine Standby-Funktion, die das Instrument mit seinem 2GB großen Flash-Speicher in Sekundenschnelle einschläfert und wieder zum Leben erweckt.
Wenn das Physis Piano einsatzbereit ist, erscheinen unter der gläsernen Oberfläche in leuchtendem Weiß und Blau so genannte Sensortasten und das 4,7“-Farbdisplay. Das sieht schick aus, dennoch erscheint es mir zunächst gewöhnungsbedürftig, auf dem Glas herumzuwischen, um die Lautstärke einzustellen. Instinktiv vermisse ich bereits ein Poti oder einen Fader, komme mir bei dem Gedanken aber seltsam altmodisch vor.
Ich berühre das schwarz schimmernde Display und stelle etwas enttäuscht fest, dass es sich hierbei gar nicht um einen Touchscreen handelt. Die detailgetreue Darstellung eines Konzertflügels offenbart zwar Liebe zur grafischen Gestaltung, Interaktion lässt das Display aber leider nur mittels der seitlich angeordneten Sensortasten F1-F4 zu. Auch die restlichen Bedienelemente haben mit einem Tablet allenfalls die Glasfläche gemein. Ästhetisch erinnern mich die übersichtlich angeordneten Zugriffsmöglichkeiten eher an eine Bang&Olufsen-Anlage. So modern und stylish das alles wirken mag, der praktische Nutzen dieses Multi-Touch-Panels will sich mir nicht so recht erschließen. Den Zusatz „Multi“ könnte man von mir aus jedenfalls schon mal streichen.

Fotostrecke: 6 Bilder Das Physis Piano H1 verzichtet völlig auf herkömmliche Taster und Regler

Die leuchtenden Etiketten sind schnell erklärt: Ganz links befindet sich das Feld für die Lautstärke, bestehend aus zehn Segmenten. Daneben liegen die sechs Sensortasten für die Instrumentenkategorien Piano, E-Piano, Mallet, Keyboard, Ensemble und Bass/Git, gefolgt vom Button „Memory“. In der Mitte prangt das bereits beschriebene Display mit den Feldern F1 und F2 links bzw. F3 und F4 rechts davon. Weiterhin finden sich ein virtueller Fader, die Buttons Enter und Exit, vier Cursortasten sowie direkter Zugriff auf Effect, Reverb, EQ, Mixer, Sound Edit, Function, Song/Demo und View. Den Abschluss ganz rechts bildet der oben erwähnte Taster für den Stand-By-Modus.
Die blau-weiße Farbgebung kann man übrigens ebenso verändern wie fast alle anderen Parameter des Instruments. Die View-Funktion führt den Benutzer zu einem Menü, bei der man die Farben der Sensortasten und des Displays auswählen und abspeichern kann. Es gibt auch Presets mit Namen wie „Lady“ (einige Funktionen werden ausgeblendet und alle Taster schimmern lila) oder „Nature“ (Displayhintergrund und Taster leuchten grün). Bei Bedarf kann man sogar die Beleuchtung der Taster und des Displays einzeln oder vollständig ausblenden, was z.B. auf einer Theaterbühne wünschenswert ist, wenn jede Lichtquelle stören würde und man nichts umschalten muss. Man hat sich jedenfalls viel Mühe bei der optischen Konfigurierbarkeit gegeben, damit sich jeder Anwender sein Physis Piano Multi-Touch-Panel farblich individuell gestalten kann.

Fotostrecke: 4 Bilder Die Tastatur ist aus Holz und überzeugt mit einem guten Spielgefühl

Durchaus klassisch wirken die 88 hölzernen Tasten, die vollkommen zu Recht die Bezeichnung „Ivory Feel“ tragen: Die raue Oberfläche vermittelt die Haptik von Elfenbein und ist angenehm griffig. Ich fange an zu spielen und bin augenblicklich begeistert von der Hammermechanik. Diese Tastatur lässt sich akkurat und dynamisch präzise spielen, repetiert flink und gleichmäßig und gehört zweifellos zu den besten Klaviaturen, die ich bisher bei einem Digitalpiano gefunden habe. Es handelt sich um die TP/40wood Mechanik von Fatar, die unter anderem auch beim ebenfalls neuen Studiologic Numa Concert verbaut ist. Sicherlich stellt jeder Pianist andere Ansprüche an eine Tastatur, und auch in diesem Fall sind die Geschmäcker verschieden. Für meinen Geschmack ist das H1 in seiner Spielbarkeit über jeden Zweifel erhaben. Zusätzlich zu den fünf verfügbaren voreingestellten Dynamikkurven (von Light Plus bis Hard Plus) gibt es auch vier Velocity-Kurven, die man individuell personalisieren und abspeichern kann.

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Praxis

Piano-Sound

Das Physis Piano verfügt, wie bereits erwähnt, über sechs Klang-Kategorien, in denen sich jeweils 32 Presets und 32 überschreibbare Speicherplätze befinden. Den Anfang macht selbstverständlich die Kategorie Piano. Die 32 Varianten decken die gängigen Charakteristiken ab und tragen Namen wie (das obligatorische) Concert Grand, Jazz Aged, Hard Ambient oder Lennon Piano, wobei das Display das passende optische Äquivalent dazu anzeigt, z.B. einen weißen Flügel beim Lennon Piano. Vom mächtigen Konzertflügel über dezente Jazzpianos, knallige Rock’n’Roll-Klaviere bis hin zum CP70 oder dem experimentell anmutenden Mr. Cage sollte für alle Geschmäcker etwas dabei sein, wobei mir persönlich die Grand-Pianos besser gefallen als die Upright-Varianten. Bei manchen Sounds wirkt die Mittellage bisweilen etwas matt und nasal, der Diskant hingegen punktet mit verblüffender Ausdrucksstärke.

Audio Samples
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Concert Grand Disused Baby Upright Closed

Das Grand-Piano ist insgesamt sehr natürlich, nuancenreich und in seiner Dynamik durchaus beeindruckend. Loops oder unsaubere Velocity-Switches sind aufgrund des Modelings kein Thema und die maximale Polyphonie ist unbegrenzt. Auch die mitgelieferte Dreifach-Pedaleinheit verwöhnt den anspruchsvollen Pianisten mit stufenloser Halbpedalerkennung, schön emulierten Damper-Release-Sounds, Sostenuto und Soft-Pedal. Vor allem aber macht die feine Abstimmung von Tastatur und Klangerzeugung das Klavierspiel auf dem Instrument zu einem echten Erlebnis.
Dennoch scheint das Physis H1 einer guten samplebasierten Klangerzeugung zunächst nicht eindeutig überlegen zu sein. Die Überlegenheit des Physical Modeling offenbart sich erst bei einer leichten Berührung des Buttons „Sound Edit“ auf der rechten Seite des Panels, der uns zur „Sound Engine“ führt. Nun öffnet sich die Tür zur großen, weiten Welt des Klavierbaus, und was das Physis Piano hier an Möglichkeiten bietet, ist in seinem Detailreichtum tatsächlich erstaunlich. Nahezu alle Komponenten, die für die Erzeugung des Klavier-Tons relevant sind, lassen sich an die persönlichen Bedürfnisse anpassen – also die Beschaffenheit der Hämmer, die Stimmung (auch für jede einzelne Saite), die Art der Besaitung, das Resonanzverhalten bzw. die Dämpfung sowie die Größe des Flügelkorpus und Resonanzbodens. Man kann sich unter anderem aussuchen, wie groß der Dämpfer ist, an welcher Stelle der Hammer auf die Saite trifft, wie laut das Klopfgeräusch der Klaviertaste ist oder wie viel Filz die Saiten am Stimmstock dämpft. Um diese Änderungen besser nachvollziehen zu können, werden die meisten Bedienschritte im Display grafisch unterstützt. Möchte man beispielsweise den Härtegrad der Hämmer verändern und wählt dafür einen elastischeren Filz, wird auch die weiche Filzschicht des Hammers im Display zunehmend dicker. Das klangliche Ergebnis ist ebenso deutlich: Der Sound wird matter und weicher.
Hier hört man die Veränderung beim Härtegrad des Hammers, angefangen beim ganz weichen Filz über eine mittlere Filzschicht bis hin zum harten Hammer mit viel Klopfgeräusch.

Audio Samples
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Piano Hammer

Und hier ist zu hören, wie sich die Größe des Flügels auf den Klang auswirkt. Am Anfang ist der Korpus klein, dann mittelgroß, am Ende sehr groß.

Audio Samples
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Piano Size

Wer den Unterschied akustisch nicht gleich wahrnimmt oder sich nicht sicher ist, wie sich beispielsweise die Duplex Vibration der Saiten auf den Klang auswirkt, der kann mit der „Help“-Funktion im Display eine Erklärung (in Englisch, Deutsch, Italienisch oder Französisch) aufrufen, die das nötige Hintergrundwissen liefert.
Mit dem Physical Modeling allein sind die Eingriffe in den Sound übrigens noch nicht erschöpft. Neben den Parametern für die Beschaffenheit des Pianos gibt es nämlich auch noch einen Kompressor mit Threshold, Ratio, Attack und Release, eine potente Amp-Simulation, eine umfangreiche Effektsektion mit Delay und diversen Modulationseffekten sowie einen Equalizer. Ein spartanischer, aber brauchbarer Hall ist ebenfalls an Bord. 

Fotostrecke: 2 Bilder Mit der Effektsektion können die Klänge verfeinert werden

E-Pianos

Für die naturgetreue Nachbildung von elektromechanischen Instrumenten hat man sich bei Viscount ebenfalls viel Mühe gegeben. Denn während akustische Pianos mit dem so genannten „APM“ (Acoustic Piano Model) emuliert werden, nutzt das Physis für E-Pianos die Technologien „EPM“ (Electric Piano Model), „WPM“ (Wurly Piano Model) und „CPM“ (Clavi Piano Model).
Das Physical Modeling der E-Pianos beruht auf der gleichen Funktionsweise, nur eben mit den Parametern, die der elektromechanischen Klangerzeugung zugrunde liegen. Beim Rhodes sind das Hämmer, Dämpferfilze, Tone-Bars und Tines (Klangstäbe), die man in Größe, Stärke oder Position justieren kann. Auch in diesem Fall liefert dies durchweg gute Ergebnisse. Das Rhodes klingt toll und authentisch und lässt sich dem eigenen Geschmack anpassen, je nachdem, ob man es glockig, warm, drahtig oder rotzig mag. So umfangreich wie bei den akustischen Pianos sind die Eingriffsmöglichkeiten aber bei weitem nicht, was unter anderem daran liegt, dass die Klangerzeugung eines Rhodes eben nicht ganz so komplex ist wie die eines Flügels. Ein wenig schade finde ich, dass man nicht am Tuning einzelner Tines schrauben kann, was den „Verwitterungsgrad“ eines alten Fender Pianos bei Bedarf doch unterstützen würde. Vor allem aber vermisse ich den Damper-Release-Sound, also das Geräusch der frei schwingenden Klangstäbe, das beim Treten des Sustain-Pedals entsteht. Auf die Reproduktion dieses typischen Merkmals wurde leider verzichtet, was für mich angesichts der sonstigen Detailverliebtheit nicht ins Bild passt.
Umso mehr kommen bei den E-Pianos die Amp-Simulation und die Effekt-Sektion zur Geltung. Bei den Presets finden sich bereits Varianten mit Phaser, Panning oder Touch-Wah, darüber hinaus gibt es noch die Möglichkeit, den Sound mit Delay, Chorus, Flanger, Tremolo, Vibrato oder Rotary anzufetten oder die Amp-Simulation mit unterschiedlichen Verstärkermodellen und Mikrofonierungen zu bemühen. 

Audio Samples
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Vintage Case

Beim Wurlitzer Piano kann man ebenfalls an Hämmern, Dämpferfilzen und Klangzungen herumschrauben. Insgesamt klingt das Wurly aber nicht besonders realistisch, wobei der Bass und die Mittellage etwas stärker sind als der Diskant, hier wird der Sound merklich dünn und klirrend. Mit ein wenig Effekt und EQ kann man darüber hinwegtäuschen, aber in der Grundstruktur überzeugt mich diese Emulation leider nicht.

Audio Samples
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Classroom Wurly

Das Clavinet macht dafür wieder mehr Spaß. Das Physical Modeling ermöglicht verschiedene Pick-Up-Settings und die Wahl der Filter (Brilliant, Treble, Medium, Soft) und des Dämpfers, was zwar mit einigem Getippe verbunden ist, aber für hörenswerte Ergebnisse sorgt. Außerdem kann man wählen, wie stark die Fäden am Stimmstock die Saiten abdämpfen und, als besonderes Feature, das Instrument künstlich altern lassen, was beim betagten Clavi zur Folge hat, dass die weich gewordenen Hammer Tips an der Saite kleben bleiben und ein schmatzendes Geräusch beim Loslassen der Taste erzeugen – ein nettes Detail. 

Audio Samples
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D6 Clavi

Mallets

Die dritte Kategorie widmet sich den Mallet-Instrumenten. Mit dem Physical Modeling hat man Zugriff auf das Material der Klangplatten (Holz oder Metall), der Härte der Schlägel, den Rotor sowie die Position und Range des Anschlags. Die Position, an der die Klangplatte vom Schlägel getroffen wird, kann man sogar mit einem Control-Pedal in Echtzeit variieren, was einen außerordentlich hohen Facettenreichtum zur Folge hat. Überhaupt klingen die verfügbaren Varianten von Vibraphon, Marimba, Woodblock, Glockenspiel, Xylophon und Celesta durch die Bank so naturgetreu, wie ich es bisher bei kaum einer anderen Emulation gehört habe. Für die authentische Reproduktion von jazzigen Vibraphon-Passagen, Weltmusik und Ethno-Sounds sind die Mallets im Physis H1 ein großer Gewinn.

Audio Samples
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Vibraphone

Weitere Sounds

Unter dem Begriff „Keyboard“ tummelt sich alles, was in den vorigen Kategorien keinen Platz mehr gefunden hat. Im Gegensatz zu den Pianos, E-Pianos und Mallets arbeiten diese Sounds mit Samples und sind 128-fach polyphon spielbar. Dazu gehören ein paar kuschelrocktaugliche DX7 E-Pianos, einige durchaus brauchbare Hammonds, Cembalo und Spinett, Kirchenorgeln in diversen Registrierungen sowie Akkordeon, Bandoneon und Harmonium. All diese Klangfarben klingen anständig und lassen sich für unterschiedlichste Stilistiken einsetzen. Die B3-Sounds sind sicherlich nicht vergleichbar mit den Möglichkeiten aktueller Hammond-Clones, dennoch sind Preset-Namen wie Mr. Lord, Mr. Brian oder Mr. Jimmy schon als ernsthafte Referenz zu sehen. Auf die Zugriegel hat man keinen Einfluss, aber zumindest kann man die Percussion und den Click-Level anpassen. Die recht gute Leslie-Simulation kann über das linke Pedal in der Geschwindigkeit geregelt werden. Die Cembali und Kirchenorgeln sind absolut gelungen und praxistauglich. Auch Akkordeon und Bandoneon gefallen mir sehr gut.

Audio Samples
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B3 Mr. Lord Bandoneon

Die fünfte Kategorie heißt Ensemble. Wie vermutet sind hier Strings, Bläser, Chor und Pads versammelt. Die Streicher sind leider eine echte Enttäuschung. Obwohl es verschiedene Ensembles gibt, klingen die Presets nicht besonders authentisch. Auch mit den Chören kann ich wenig anfangen. Etwas mehr Freude kommt hingegen bei den Bläsern auf. Die Patches Velo Horns, Brass Band und Big Band kann man gut einsetzen. Den restlichen Teil der Ensemble-Sounds bestreiten ein paar Synth-Pads, die gute Hausmannskost sind, nicht mehr und nicht weniger. Wer schnell mal ein Sweep-Pad oder einen Oberheim Verschnitt benötigt, wird hier sicher fündig. 

Audio Samples
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Chamber Strings Brass Band

Zum Abschluss gibt es noch eine Kategorie für Gitarren und Bässe. Der Upright-Bass macht Spaß, zumal das Geräusch von rutschenden Fingern auf den Saiten offenbar nach dem Zufallsprinzip eingestreut wird und einiges zur Lebendigkeit beiträgt. Auch ein Fretless und der Pick Mute Bass sagen mir zu, wohingegen die meisten anderen E-Bässe kaum Verve versprühen. Davon abgesehen finden sich hier ein paar unspektakuläre, aber anständige Synth-Bässe.

Audio Samples
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Bass Upright

Die Gitarren hinterlassen ebenfalls einen geteilten Eindruck. Die akustischen Gitarren klingen ganz passabel, auch hier sind die Fretnoises eine nette Bereicherung. Bei den E-Gitarren finde ich allenfalls die jazzigen Halbakustik-Varianten sinnvoll. Warum man dem Physis noch alberne Stratocaster-Sounds eingepflanzt hat, ist mir aber ein Rätsel.

Audio Samples
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Steel Guitar

Sonstige Funktionen

Das Physis Piano kann im Split oder Dual Modus betrieben werden. Dafür drückt man zwei Kategorien gleichzeitig, wobei der zuerst gedrückte Sound im oberen Tastaturbereich erklingt und der als zweites gedrückte folglich im unteren Bereich spielt. Allerdings kann man nicht zwei Sounds aus derselben Kategorie simultan benutzen. Hat man z.B. ein Piano und einen Kontrabass ausgewählt, kann man in dem daraufhin erscheinenden Screen mit F3 festlegen, ob man Dual oder Split-Mode möchte. Mit F4 wird der Splitpunkt festgelegt. Das ist denkbar unkompliziert und schnell gemacht.
Ferner gibt es einen Mixer, der für jeden Sound Lautstärke, Panorama, Effekt-Send und Reverb-Send verwaltet. Hier hätte das Physis von echten Potis oder Fadern profitiert; ohne selbige bleibt die Benutzung des Mixers leider mühsam. Im Funktionsmenü findet man das Metronom, das man in Tempo, Taktart, Betonung und Lautstärke variieren und zum MIDI- oder USB-Input synchronisieren kann. Außerdem kann man die Pedale konfigurieren, sprich ihnen diverse Control-Befehle zuweisen. Auch wenn das Physis Piano in Ermangelung von Spielhilfen wie Pitch-Bend oder Modulationsrad nicht primär als Masterkeyboard konzipiert ist, kann man dezidierte MIDI-Einstellungen vornehmen und filtern. Natürlich bietet das Physis Piano auch MIDI über USB.
Das gesamte Instrument oder einzelne Splitbereiche lassen sich transponieren und im Tuning verändern. Für die Darbietung von Alter Musik kann man von der wohltemperierten Stimmung zu anderen Stimmungen wie z.B. Valotti, Werckmeister, Kirnberger oder Pythagoreisch wechseln. Unter Setup finden sich Basisfunktionen wie Factory Reset, Software-Update und die Sprache des Help-Menüs. Hier kann man auch die kleine Uhr, die im Display oben rechts die Zeit anzeigt, stellen und ein- oder ausblenden.
Erwähnung finden soll auch noch der Recorder, der zwei Spuren MIDI oder Audio aufzeichnen und abspielen kann. Das ist zu Übungszwecken sinnvoll, zudem dient der Recorder als akustisches Notizbuch, das man bei Bedarf auch via USB exportieren kann. Umgekehrt kann der Player MIDI und Audio in allen gängigen Formaten von externen USB-Speichermedien abspielen.

Fotostrecke: 3 Bilder Die Bedienung über die Funktionstaster und den virtuellen Fader ist etwas umständlich

Bedienung

Das Aufrufen der Sounds ist zwangsläufig immer mit Scrollen oder Tippen durch die 64 Speicherplätze einer Kategorie verbunden, einen direkteren Zugriff gibt es leider nicht. Allerdings merkt sich das Physis Piano, welcher Sound in einer Kategorie zuletzt aufgerufen wurde. Mit der Memory-Funktion kann man eigene Klangkreationen inklusive aller Settings für Effekte, EQ und dergleichen abspeichern und benennen. Dafür stehen 32 freie Speicherplätze pro Kategorie zur Verfügung. Backups eigener Sounds sind über USB möglich.
Die klanglichen Möglichkeiten, die das Physis Piano dem Nutzer bietet, sind quasi unbegrenzt, und so dienen die 32 Piano-Presets nur als Beispiele dafür, wozu Physical Modeling in der Lage ist, nämlich den Wunschflügel in all seinen Einzelteilen zu generieren. Das setzt allerdings nicht nur voraus, dass man weiß, wie der Lieblingssound klingen soll, sondern auch, wie man dahin gelangt. Denn die Darstellung ist durch das grafische Display zwar übersichtlich, die Haptik und Bedienung des Multi-Touch-Panels finde ich hingegen nicht wirklich gelungen. Zur Auswahl der gewünschten Parameter muss man mit dem Cursor durch das Display steppen, zur Eingabe der Werte hingegen muss man den virtuellen Fader bemühen, der mich in seiner Funktionsweise leider nicht überzeugt, zumal das Display Änderungen meist erst mit einer gewissen Verzögerung darstellt. Zu allem Überfluss wird dann auch noch der Enter/Exit Button für jede Eingabe benötigt, man springt also munter zwischen den Eingabefeldern hin und her. Auch nach einiger Eingewöhnung läuft das nicht wirklich intuitiv, Instrumente wie das SV-1 von Korg oder das Nord Stage sind dem Physis in dieser Hinsicht haushoch überlegen.
Um die Bedienung insgesamt zu erleichtern, hätte ein Touchscreen (wie Korg ihn mittlerweile sogar in Einsteigergeräten verbaut) richtig Punkte gebracht, und obwohl das minimalistische Design gut aussieht, wäre mir ein physischer Fader oder ein Rädchen zur Werteeingabe allemal lieber gewesen als der bunt schimmernde 5-Segment-Fader unter der Glasoberfläche. Auch ein Editor für Mac und Windows, wie ihn das V-Piano von Roland bietet, wäre eine große Hilfe zum effizienten Schrauben am Sound. Leider gibt es so etwas für das Physis Piano nicht.
Ungeachtet dessen klingt das Instrument genau so, wie man es will, und zwar in allen Details. Ob man die sich bietenden Möglichkeiten vollends ausschöpft, hängt sehr vom Anspruch und Nutzungsverhalten ab. Manch einem mag der Facettenreichtum übertrieben vorkommen. Andere Pianisten werden sich darüber freuen, dass es ein Instrument gibt, das eben genau diese Eingriffsmöglichkeiten bietet. Übrigens: Wer sich dafür interessiert, welch winzige Nuancen bei den ganz großen Vertretern der Klavier-Zunft (Lang Lang, Alfred Brendel, Julius Drake u.a.) relevant sind, dem sei der Film „Pianomania“ ans Herz gelegt.

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Fazit

Das Physis Piano H1 bietet nicht nur eine fantastische Tastatur, sondern dank des Physical Modeling Konzepts auch einen sehr guten Klavierklang, der sich in vielen Facetten einstellen lässt. Mit dieser Liebe zum Detail und dem hohen Preis ist das Instrument ein Exot für anspruchsvolle Pianisten. Messen muss es sich in erster Linie mit Rolands V-Piano (das noch teurer ist) und dem CP1 von Yamaha, wobei sich unser Testkandidat vor keinem der beiden Konkurrenten verstecken muss. Davon abgesehen gibt es aber auch deutlich günstigere Alternativen, die zwar kein Physical Modeling bieten, mit hochwertigen Samples aber dennoch alltagstauglich und eventuell auch komfortabler zu bedienen sind. Denn das größte Manko liegt meiner Meinung nach im Multi-Touch-Panel. Hier wurde die Bedienbarkeit offensichtlich dem schicken Design untergeordnet, was man durch einen Touchscreen hätte kompensieren können. Der fehlt aber ebenso wie ein Software Editor. Gut aufgehoben ist das Physis Piano in Studios, wo qualitativ hochwertige Piano-Sounds wichtiger sind als schneller Zugriff auf alle Parameter. Auch im Wohnzimmer macht das Instrument eine gute Figur. Gleich neben der Bang&Olufsen-Anlage.

Unser Fazit:
4 / 5
Pro
  • beeindruckende Reproduktion des Flügelklangs mit Physical Modeling
  • sehr gute Rhodes und Mallet Sounds
  • umfangreiche Eingriffsmöglichkeiten
  • hervorragende Holz-Tastatur
  • Polyphonie der Pianos unbegrenzt
Contra
  • Bedienung über Multi-Touch-Panel etwas umständlich
  • kein Damper-Release-Sound beim Rhodes
  • lange Wartezeit beim Einschalten
  • hoher Preis
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Physis Piano H1 Test
Für 2.899,00€ bei
Das Physis Piano H1: Klang und Tastatur überzeugen, die Bedienung leider weniger
Das Physis Piano H1: Klang und Tastatur überzeugen, die Bedienung leider weniger
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