Studiomythen widerlegt: “Kunst kommt von Können”

Kunst komme von Können und nicht von Wollen, sonst müsse es Wunst heißen.

– Lustiger Spruch, leider komplett falsch.
Oberflächlich betrachtet ist nicht schwer, den Satz zu widerlegen. Hier werden die Wortherkunft des Wortes und sein Inhalt verwechselt und von einem auf das andere geschlossen. Das Wort „Kunst“ hat nämlich zwar tatsächlich eine direkte Verwandtschaft mit dem dem Wort „Können“. „Kunstvoll“ und „gekonnt“ sind in der Bedeutung nahezu gleich. Allerdings wäre auch hier schon anzumerken, dass das Wort Können sehr eng mit dem Wort Kennen im Sinne von „Wissen um etwas“ verwandt ist, was auf eine geistige Tätigkeit hindeutet.

Der Kunstbegriff als solcher geht weit über das eigentliche Wort hinaus

Aktuell widerspricht er sogar der Etymologie des Wortes selbst direkt: Man kann tatsächlich sagen, dass Kunst im Sinne eines zeitgemäßen Kunstbegriffs erst dort vorliegt, wo eine möglichst vollständige Emanzipation vom Können stattgefunden hat. Es gibt natürlich unterschiedlichste Vorstellungen davon, was Kunst sei und was nicht, aber ich denke, man kann ganz allgemein annehmen, dass die Frage, ob etwas versiert umgesetzt wurde, schon lange keine tragende Rolle mehr in dieser Debatte spielt.
So theoretisch das klingt, so prägend ist es für alle Bereiche der Kunst, also auch die Musik. Es lässt sich nämlich ganz gut auch auf Popkultur herunterbrechen, sofern man einen kleinen geistesgeschichtlichen Ausblick vor Augen hat.  

Eine Möglichkeit, das Wort „Kunst“ als Adjektiv zu formen, ist neben „kunstfertig“ das Wort „künstlich“.

Im Grunde umreißen dies Adjektive „kunstfertig“ und „künstlich“ das Spannungsfeld, in dem sich Popmusik heute befindet, sehr gut. Da haben wir es einerseits mit Bands zu tun, die ob ihres Könnens und ihrer inszenierten Echtheit Erfolge feiern und andererseits mit Kunstprodukten, die sich bereits sehr weit von jeglichem Anspruch an musikalisch-handwerkliche Versiertheit losgesagt haben. Was als kunstfertig gelten kann, ist klar: Hier ist es tatsächlich das Können, das entscheidet. Diese Frage nach der Kunstfertigkeit bedingt auch direkt die Frage nach der Echtheit. Nur, wenn das Können als Maßstab gilt, ist ja zum Beispiel wichtig zu wissen, ob die Geigenvirtuosin das schwierige Solo tatsächlich selbst gespielt hat.
„Künstlichkeit“ dagegen bezeichnet das Gegenteil von Echtheit. Der größere Zusammenhang, in dem das steht, ist das Gegensatzpaar Kultur / Natur. In der Tradition vieler Denksysteme wird die Kultur dem Geist zugeschrieben, der als männlich deklariert ist, während die Natur mit dem Körper, beziehungsweise der Weiblichkeit assoziiert wird. Künstlichkeit, Kultur und Zivilastion wird als Erhebung des Geistes über die Natur und deren Unterwerfung unter den Willen eingeordnet, während Natürlichkeit die Abwesenheit eines Willens bedeute. Dementsprechend gilt die schöpferische Kraft, weil sie willentlich erfolge, als geistige Leistung, also als männlich. Heutzutage hat sich völlig zurecht die Auffassung durchgesetzt, dass diese Einordnung totaler Quatsch ist.

Aus der Vorstellung, dass die Natur dem Willen zu unterwerfen sei, folgt direkt eine Gleichsetzung von Künstlichkeit und Wille, also von Kunst und Wille.

Schon früh wurde als Künstler nicht derjenige angesehen, der den Pinsel so gut zu schwingen wusste. Dafür hatte man Gehilfen. Sondern derjenige, der ein Werk konzeptionell erschuf. Der Begriff der Urheberschaft ist so alt wie der des Werkes. Als Urheber galt noch nie die ausführende Hand, sondern schon immer der geistige Schöpfer.
Die Erwähnung der klassischen Zuordnung der Kategorien „Kultur“ und „Natur“ zu den Begriffen „männlich“ und „weiblich“ wird eventuell auf Widerspruch stoßen – man könnte fragen, was das in einem Text über Popmusik zu suchen hat. Daher möchte ich diesen Zusammenhang näher ausführen. Es ist nämlich keineswegs folgenlos geblieben, dass der Begriff der geistigen Schöpfung über sehr lange Zeit ein mit Männlichkeit assoziierter Begriff war. Die Existenz der Vorstellung der Transzendenz (also der schöpferischen Kraft, über sich hinauszuwachsen) als „männlich“ und der Immanenz (also dem Verharren in sich und der Reproduktion der Spezies) als „weiblich“ ist geistesgeschichtlich gut dokumentiert. So erstaunlich es auch ist, dass eine solch unsinnige Einordnung überhaupt jemals für richtig befunden wurde – sie prägte tatsächlich ganze Zeitalter unserer Geschichte. Ein Blick auf den Musikmarkt zeigt, dass diese Vorstellung auch heute noch ganz konkrete Folgen hat. Ihr folgend konnte man annehmen, dass männliche Künstler als Subjekte auftreten, die ihre Kunst formen, also getrennt von ihr bestehen, während Frauen diese Hoheit über ihre Kunst nicht besitzen. Sie können dann nur als ihr eigenes Werk wahrgenommen werden.

Kunst ist das Ergebnis von Entscheidungen
Kunst ist das Ergebnis von Entscheidungen

Kunst ist Inszenierung

Nach dem traditionellen Rollenverständnis inszeniert ein Künstler also ein Werk, eine Künstlerin dagegen sich selbst. Daraus folgt eine erstaunliche Wendung. Der männliche Künstler kann sich dann nämlich parallel zu seinem Werk selbst authentisch zeigen, indem er einfach zeigt, was er kann. Künstlerinnen werden nach dieser Logik, wenn sie als Person weniger mit dem Geist (Kunst) als dem Gefühl (Natur) assoziiert werden, als Objekt der Kunst wahrgenommen. Sie müssen also einiges tun, um getrennt von ihrer Kunst als Subjekte wahrgenommen zu werden. Wenn Kunst die Unterordnung der Natur unter den Geist bedeutet und gleichzeitig die Natur als weiblich gilt, müsste eine Künstlerin eben auch ihre eigene Natur unterwerfen. Sie wird zum Kunstprodukt. Nicht selten steht dann sogar die Vermutung im Raum, nicht sie, sondern irgendein Mann habe sich das ausgedacht. So lassen sich tatsächlich große Teile der Popgeschichte als eine lose Ansammlung weiblicher Kunstprodukte und „echter“ Männer lesen. Da muss man nicht mal an so extreme Beispiele wie Lady Gaga und Johnny Cash denken, ein bisschen was von diesem Prinzip findet sich in vielen Bereichen. Auch Abweichungen geben Aufschluss über den Status Quo: Männliche Künstler, die sich ausdrücklich selbst als Kunstobjekte inszenieren, genannt seien hier beispielhaft David Bowie und Marilyn Manson, werden häufig als androgyn empfunden. Weibliche Authentizität wiederum funktioniert meist nach dem Schema der Naivität: Die Frau, die sich da auf der Bühne offenbart, gibt sich ganz in ihrer Schönheit und Verletzlichkeit preis, sie ist also eigentlich eher Kunstobjekt als Erschaffende. Alles das sind real existierende Folgen einer eigentlich längst veralteten Philosophie. Dieser Abschnitt führte uns freilich ein wenig vom Wege ab, zeigt aber, wie ich finde, ganz gut, wie komplex das Thema ist.

Der Kunstbegriff, der in der Geschichte unserer Gesellschaft gebildet wurde, ist alles andere als nur ein alternatives Substantiv für Können.

Es ist ein Wort, das tiefgreifende Kategorien unseres Denkens bezeichnet, die auf alle Bereiche unseres Lebens wirken. Nicht zuletzt spricht die Rechtslage Bände über unseren Kunstbegriff. Das Urhebergesetz unterscheidet sehr klar zwischen Autoren eines Werkes und Interpreten, die es dann umsetzen. Den Interpreten werden sogenannte verwandte Schutzrechte zugestanden, die als eine Unterkategorie der Urheberrechte gelten, aber nicht deswegen, weil die Umsetzung der Werke so viel Können erfordert. Sondern weil nicht auszuschließen ist, dass auch während einer Interpretation schöpferische Entscheidungen getroffen werden. Kunst kommt von Wollen.

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