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Schrott oder Meisterwerk? – Zur Verteidigung von Revolution 9

Kaum ein Stück der Beatles-Geschichte spaltet so sehr wie ‘Revolution 9’. Für viele ist es reines Chaos, für andere ein visionäres Stück – ein Schockmoment auf dem ‘White Album’, der sich nur schwer einordnen lässt. Revolution 9 stellt die Frage, was Musik eigentlich ist und ob man das Stück überhaupt als Lied bezeichnen könnte.

C: Wikimedia Commons: Patrick Despoix

In einem vergangenen Artikel haben wir die schlechtesten Beatles Songs aller Zeiten untersucht. Bei der Recherche stößt man wiederholt auf den Titel ‘Revolution 9’. Kaum ein Stück wurde (und wird weiterhin) so umstritten diskutiert, die der vorletzte Song des weißen Albums.

Viele Fans sehen es als wirren Filler-Song, andere erkennen eine Idee, jedoch auch die gescheiterte Umsetzung. Einige Interpretieren das Stück wiederum als missverstandenes Meisterwerk. In diesem Artikel soll gezeigt werden, dass Revolution 9 trotz seines unkonventionellen und wirren Wesens nicht auf die Liste der schlechtesten Beatles Songs gehört.

Entstehung eines ‘Experiments’

Am 30. Mai 1968 begannen John Lennon und Yoko Ono mit der Arbeit an einem Stück, das bis heute die Meinungen spaltet wie kaum ein anderes in der Popgeschichte: Revolution 9. Die finale Abmischung fand am 20. Juni statt – live, wild und chaotisch, mit Maschinen in allen drei Studios der Abbey Road. Eine Tonbandrolle läuft hörbar bei Minute 5:11 aus, Lennon und George Harrison reagieren sofort mit weiteren Overdubs. Das Ergebnis: ein monumentales Klangmosaik, das über acht Minuten dauert – länger als Hey Jude – und somit das längste Werk, das die Beatles je veröffentlicht haben.

Eingebettet zwischen dem düsteren Cry Baby Cry und dem kaum wahrnehmbaren Can You Take Me Back (eine spontane McCartney-Einspielung während einer Aufwärmphase) wirkt ‘Revolution 9’ wie ein riesiger Block im Verlauf des White Albums. Keine Melodie, kein Refrain – aber Bewegung, Struktur und Wirkung.

Angeblich wollten Produzent George Martin und einige Mitglieder der Band das Stück von der Platte verbannen. Doch Lennon blieb standhaft. McCartney selbst relativierte die Debatte später trocken mit den Worten: „It’s the bloody Beatles White Album – shut up!

© Wikimedia Commons

Kurz vor der Veröffentlichung hatten Lennon und Ono ihr eigenes avantgardistisches Projekt Unfinished Music No. 1: Two Virgins veröffentlicht. Deshalb vermuteten viele, Yoko Ono sei Schuld an diesem “Kunstunfall”. Doch Revolution 9 ist kein Fremdkörper. Es ist die logische Folge einer revolutionären Band, die nie davor zurückschreckte, Konventionen zu sprengen.

“Ist das noch Musik?”

Eine berechtigte Frage. Revolution 9 zwingt uns über die Grenzen herkömmlicher Musik zu schauen und unsere Definition von Musik zu überdenken. Die gängige Definition – Melodie, Rhythmus, Harmonie – greift hier nämlich zu kurz. Revolution 9 besteht nicht aus Strophen und Refrains, sondern aus Tonbandschleifen, gesampelten Sprachfetzen, Klangcollagen, orchestralen Fragmenten und teilweise auch Stille.

Und doch ist es Musik – nicht trotz, sondern wegen seiner Struktur. Revolution 9 bietet dafür musikalische Entwicklungen, Spannungsbögen, Wiederholungen und Transformationen – wie ein symphonisches Werk. Es beginnt in B-Moll, enthält sich überlagernde Tonspuren, harmonische Fragmente, klangliche Leitmotive und Kontrapunkte. Das alles aus Tape-Loops, Radiogeräuschen, Rückwärtsläufen, orchestralen Clustern, Stimmen und Klängen, die wie zufällig erscheinen, aber mit sicherer Hand arrangiert sind.

John Lennon, George Harrison und Yoko Ono erschufen eine experimentelle Klangwelt, die besonders an John Cage erinnert. Musik wird hier nicht gespielt, sondern konstruiert – mit Bandmaschinen statt Gitarren. Es ist eine Dekonstruktion des Songbegriffs. Wer Revolution 9 als Lärm abtut, übersieht, dass auch Geräusch Kunst sein kann – wenn es bewusst geformt ist und Emotionen auslösen kann.

Was bedeutet Revolution 9?

Was will uns das Stück sagen? Vielleicht gar nichts. Vielleicht alles. Es erzählt nicht linear, sondern erzeugt Stimmungen: Paranoia, Euphorie, Chaos, Ordnung, Aufbruch, Zusammenbruch. Man hört Rebellion und Müdigkeit, Auflehnung und Auflösung. Die fragmentierten Sprachschnipsel, das ikonische „Number Nine“ – alles wird zum Teil einer musikalischen Revolution. Und mittendrin: Klänge, die wie Schreie, Jubel, Schüsse, Babygebrabbel, Kirchenchöre, Straßengeräusche und Jazz klingen.

Revolution 9 entstand mitten in einem weltweiten Klima der Umbrüche und Unruhen – einem akustischen Spiegelbild der späten 1960er Jahre. 1968 war ein Jahr der Eskalation: Studentenproteste in Paris, die Ermordung Martin Luther Kings und Robert Kennedys, der Vietnamkrieg, der Prager Frühling und dessen blutige Niederschlagung durch sowjetische Panzer. Auch in den USA und Großbritannien brodelte es – Rassenspannungen, Antikriegsdemonstrationen, gesellschaftliche Polarisierung.

© Wikimedia Commons: The Tribune / SEARCH Foundation

Die Welt schien aus den Fugen zu geraten, alte Gewissheiten zerbrachen, und mit ihnen auch die Grenzen zwischen Musik, Kunst und politischem Ausdruck. In genau diesem Spannungsfeld wirkt Revolution 9 wie eine klangliche Darstellung des Chaos. Die Sirenen, Menschenmengen, Fragmente klassischer Musik und zerfetzte Sprachschnipsel – all das löst das Gefühl einer Welt im Umbruch aus. Lennon und Harrison übersetzten das politische Beben der Zeit nicht in Parolen, sondern in Klang.

Das Lied spiegelt zudem die beginnende Auflösung der Beatles wieder. Man hört in diesem Stück das Auseinanderbrechen einer Band, das Ringen um Ausdruck, das Streben nach Bedeutung jenseits von Popformaten. Dieser Konflikt zeigt sich auch in den gespaltenen Meinungen über die Präsenz des Stücks auf dem weißen Album.

Später versuchte Charles Manson das Stück für seine apokalyptischen Wahnvorstellungen zu instrumentalisieren. Er hörte in Revolution 9 die Offenbarung des Weltuntergangs und missbrauchte es dabei für seine eigenen Zwecke. Auch der „Paul is Dead“-Mythos, ausgelöst durch das Rückwärtsspielen des Stücks, war ein Versuch, Revolution 9 in ein Verschwörungsnarrativ zu zwängen. Doch das Stück steht weiterhin für sich und seine Bedeutung.

Auswirkung auf die Musikgeschichte

Der Einfluss von Revolution 9 mag auf den ersten Blick unsichtbar wirken, doch seine Nachwirkungen ziehen sich bis in die heutige Musikwelt. Als eines der frühesten Beispiele für Klangkunst im Popkontext öffnete der Track die Türen für experimentelle Musikformen im Mainstream – von Industrial über Ambient bis hin zu modernen Sampling-Techniken im Hip-Hop und elektronischer Musik.

Künstler wie Aphex Twin, Radiohead und Frank Zappa (der zugegeben schon vor den Beatles mit Sound-Collagen experimentierte) haben sich offen zu ähnlichen Klangexperimenten bekannt, und selbst Pop-Acts greifen heute auf Soundcollagen und Geräuschtexturen zurück, die ohne die Pionierarbeit der Beatles kaum denkbar wären. Revolution 9 zeigte, dass Popmusik mehr sein kann als Melodie – nämlich ein Raum für radikalen Ausdruck, Klangforschung und künstlerische Freiheit.

Revolution 9 ist keine leichte Kost – und will es auch nicht sein. Es ist kein Lied, das man mitsingt, sondern eines, das einen herausfordert, verstört und wachrüttelt. Es bedeutet Fragmentierung, Kontrollverlust, Umbruch – genau das, was Ende der 60er in der Welt und auch in der Band selbst geschah. Inmitten von Pop, Protest und Psychedelik reißt dieser Track die Hörer aus ihrer Komfortzone und lässt sie in ein akustisches Labyrinth fallen. Seine Bedeutung liegt nicht in einer klaren Botschaft, sondern im Erleben selbst: eine Revolution im Kopf, ein surrealer Soundtrack für eine Zeit, in der alles möglich – und nichts mehr sicher – war.

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