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Paiste Formula 602 Test

Neulich in einer afrikanischen Leichenhalle: Ein für tot erklärter Mann hebt den Deckel seines Sarges an, klopft sich beim Aussteigen den Staub von den Ärmeln und marschiert Richtung Ausgang. Die Aufseher glauben an einen Geist und ergreifen panisch die Flucht. Eine ähnlich wundersame Wiederauferstehung eines Toten oder zumindest Totgeglaubten war die Wiedereinführung der Paiste „Formula 602“ Serie. Zur Vorgeschichte starten wir die Zeitmaschine und fliegen zurück ins Jahr 1957: Nach einer mehrjährigen Experimentierphase bringt die schweizer Firma unter dem Namen „Super Formula 602“ erstmals Becken aus der Bronzelegierung B20 auf den Markt. Zwei Jahre später wurde das „Super“ dann aus dem Namen gestrichen und die breit aufgestellte „Formula 602“-Serie trat an, um in den folgenden dreißig Jahren Beckengeschichte zu schreiben. Vor allem im Jazz-Bereich fanden die Becken schnell eine kleine, aber feine Anhängerschaft, wovon Endorser-Namen wie Art Blakey, Roy Haynes und Joe Morello zeugen. Letzterem wurde Ende der 1960er Jahre sogar eine limitierte Kleinserie, das „Formula 602 Joe Morello Set“, gewidmet. Aber nicht nur im Jazz-Bereich hatten die Formula 602 ihre Anhänger, auch Rock-Legenden wie Charlie Watts, John Bonham oder Cozy Powell spielten Becken aus dieser Serie. In den 1970er und 80er Jahren bildeten die Formula 602 zusammen mit den 2002 das Rückgrat des Paiste-Programms.

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Als 1989 die Paiste Signature Serie vorgestellt wurde, begannen die Formula 602 dann allmählich aus den Katalogen zu verschwinden. Als Grund für die Einstellung der Serie nannte Paiste sinkende Verkaufszahlen und vertröstete die Kunden mit der Behauptung, dass man 602-ähnliche Sounds auch innerhalb der Signature Serie finden könne. Es stellte sich aber schnell heraus, dass diese aus B15-Material gefertigten Becken zwar unbestrittene Qualitäten hatten, aber den speziellen Sound der Formula 602 nicht reproduzieren konnten. Somit stiegen die Preise für gebrauchte 602-Becken in ungeahnte Höhen, was vor allem auf die wenigen überlebenden dünnen Modelle wie „Paperthin“ oder „Thin Crash“ zutraf. Nach 20-jähriger Abstinenz entschloss man sich dann letztes Jahr im schweizerischen Nottwil überraschend zu einer Neuauflage. Ich bin gespannt, ob es Paiste gelungen ist, den legendären 602-Spirit in die Neuzeit zu übertragen.

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DETAILS

Die aktuelle Serie beinhaltet ein 20“ Medium Ride, zwei Thin Crashes in 16“ und 18“, eine 14“ Sound Edge Hi-Hat sowie ein 20“ Medium Flatride. Vorbild für die Reissues sind die „Black Label“-Modelle aus den 1970er Jahren. Bezüglich der Logos sind die neuen von den alten Becken kaum zu unterscheiden. Hier wurde viel Wert aufs Detail gelegt. Auch in puncto Bearbeitung ist es Paiste gelungen, die Vorbilder originalgetreu zu reproduzieren. Sowohl das Abdrehmuster als auch die Hämmerungsstruktur entsprechen exakt den früheren Modellen. Hut ab, da bestätigt sich der sprichwörtliche helvetische Hang zur Perfektion. Diese zeigt sich  auch in der absolut einwandfreien Verarbeitungsqualität. Paiste verwendet für die Formula 602 Becken übrigens eine in Deutschland hergestellte, besonders reine B20-Legierung, die in sehr ähnlicher Form auch früher zum Einsatz kam. Dabei betont die Firma, dass das Material nicht identisch ist mit der für die Paiste „Twenty“-Serie verwendeten türkischen B20-Bronze. Der Herstellungsprozess der Top-Serien, zu denen selbstverständlich auch die Formula 602 gehören, läuft bei Paiste grundsätzlich anders ab als bei den meisten anderen Herstellern. Die Becken werden nicht im eigenen Werk gegossen, stattdessen kauft Paiste vorgefertigte „Sheets“, die dann von den Beckenschmieden, größtenteils in Handarbeit, in Form gehämmert und vielfältig bearbeitet werden. An dieser Stelle muss endlich mal mit dem alten Klischee aufgeräumt werden, dass Paiste-Becken im Gegensatz zu beispielsweise Zildjian überwiegend maschinell gefertigt werden. Dies ist schlichtweg falsch. Wer sich davon überzeugen möchte, findet auf der Paiste-Website Videos zum Herstellungsprozess.

Bei den 14“ Hi-Hats handelt es sich um die von Paiste erfundene und vielfach kopierte „Sound Edge“-Ausführung mit dem gewellten Bottom-Cymbal. Beide Becken sind extrem fein abgedreht, so dass die Oberflächen fast glatt erscheinen. Das Hämmerungsmuster besteht aus zahlreichen dicht gesetzten, flachen Einschlägen, die zum Rand hin etwas tiefer werden. Die Kuppen der Hi-Hats sind – wie übrigens bei allen Formula 602-Becken – nicht gehämmert. Gewichtsmäßig sind die Becken mit 840 Gramm für das Top und 1040 Gramm für das Bottom als leicht einzustufen.Die 16“ und 18“ Thin Crashes unterscheiden sich in der Optik deutlich von den Hi-Hat-Becken. Die Tonal Grooves sind bei den Crashes wesentlich breiter und auch tiefer gefräst. Dabei sind die Abstände der Rillen auf der Spielfläche sehr gleichmäßig, während sie sich im Bereich der Kuppe verdichten. Das Hämmerungsmuster weist dieselbe dichte Struktur auf wie bei den Hi-Hat-Becken. Mit 980 Gramm für das 16“ Becken und 1360 Gramm für das 18“ liegen die Becken in einer für Thin Crashes üblichen Gewichtsklasse.
Optisch präsentiert sich das 20“ Medium Ride mit den gleichen Bearbeitungsmerkmalen wie die Crashes. Es verfügt über ein herkömmliches Profil mit einer deutlich abgesetzten Kuppe. Mit 2380 Gramm liegt sein Gewicht im mittleren Bereich, genau wie es der Aufdruck bestätigt.Das 20“ Medium Flatride fällt natürlich zunächst durch sein flaches Profil aus dem Rahmen. Genau wie beim Sound-Edge-Prinzip der Hi-Hats handelt es sich auch beim Flatride-Becken um eine Paiste-Erfindung aus den 1960er Jahren. Auffallend ist das feine Abdrehmuster, das exakt der Oberfläche der Hi-Hat-Becken entspricht. Auch die Hämmerung ist identisch. Mit 2320 Gramm ist das Becken geringfügig leichter als das Medium Ride.

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PRAXIS

Sound Edge Hi-Hats haben generell einen eigenständigen Klangcharakter. Allgemein klingen sie etwas heller und – im geschlossenen Zustand gespielt – auch weniger trocken als herkömmliche Hi-Hat-Becken. Da das gewellte Bottom-Cymbal einen Luftstau unmöglich macht, ist im allgemeinen auch der getretene Chick-Sound prägnanter. 

All diese Attribute treffen auch auf die Hats der Formula 602 zu. Der Sound ist brillant und extrem fein durchzeichnet, dabei fehlt es trotzdem nicht an Wärme. Durch die sehr ausgewogene Mischung erweisen sich die Becken als echte Allrounder, die von akustischem Jazz bis hin zu Pop/Rock mittlerer Lautstärke alles mitmachen. Zu stark sollte man sie aufgrund des geringen Gewichtes allerdings nicht beanspruchen.

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HH solo HH Groove 1 HH Groove 2

Die beiden Thin Crashes reagieren aufgrund der geringen Materialstärke sehr sensibel und entfalten das volle Spektrum bereits bei mittelstarken Anschlägen. Daran wird schon deutlich, dass auch diese Becken durch zu harte Spielweise leicht überbeansprucht werden können. Behandelt man sie aber mit dem angemessenen Fingerspitzengefühl, so geht vor allem beim 18“ Modell förmlich die Sonne auf. Ohne zu übertreiben behaupte ich, dass dies eines der besten Crash-Becken ist, die ich je gespielt habe. Irgendwie hat es Paiste geschafft, dass das Becken einerseits dunkel und warm klingt und auf der anderen Seite diese seidigen HiFi-mäßigen Höhen mitbringt, die dafür sorgen, dass es im Mix präsent bleibt. Das 16“ Thin Crash bietet grundsätzlich eine ähnliche Charakteristik und ergänzt sich tonal auch gut mit dem 18“, allerdings hat es ein deutlich kürzeres Sustain und für meinen Geschmack etwas zu wenig „Body“.

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16″ solo 18″ solo Groove mit Crashes

Das 20“ Medium Ride war seinerzeit das meistverkaufte Modell der Formula 602-Serie. Wenn man das Reissue-Modell anspielt, wird der Grund auch sofort klar. Es präsentiert sich als echtes Allround-Talent, nicht zu schwer, nicht zu leicht, nicht zu hell, nicht zu dunkel, nicht zu trocken, nicht zu rauschig. Wer jetzt denkt, „Oh Gott, wie langweilig!“, liegt trotzdem falsch. Das Becken klingt schlicht und einfach genau so, wie ich mir das perfekte Ride in moderater Rock- und Popmusik vorstelle, und selbst bei Jazz-Patterns überzeugt es auf ganzer Linie. Der Grundsound ist sehr warm und lebendig und übertönt bei normaler Spielweise nie den kristallklaren Stockaufschlag. Die Kuppe setzt sich klar und deutlich durch, ohne aufdringlich zu wirken. Der Sound des Beckens ist irgendwie elegant und perfekt ausbalanciert. Bemerkenswert finde ich auch den fantastischen Crash-Sound des Beckens, und genau diese stilistische Bandbreite zeichnete die Formula 602 Becken schon immer aus. Das aktuelle Modell reiht sich da nahtlos ein.

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Medium-Ride solo Groove 1 Groove 2 Groove 3 Jazz-Groove

Die Formula 602 Flatrides geniessen in der Vintage-Szene seit Jahrzehnten Kultstatus, und auch das 2011er Modell klingt hervorragend. Im ersten Moment erschreckt man sich schon fast über die (gemessen an einem herkömmlichen Ride) äusserst dezente Lautstärke des Beckens, aber genau dafür wurde diese Spezies ja seinerzeit auch entwickelt. Aufgrund der speziellen Form können sich Flatrides nicht aufschaukeln und bleiben folglich immer klar und kontrolliert. Der Preis hierfür ist allerdings, dass sie kaum crashbar sind, also dynamisch nur eine begrenzte Bandbreite haben. Dementsprechend eignet sich auch das Formula 602 Medium Flatride vorwiegend für akustischen Jazz, Dinnermusik oder spezielle Aufnahmesituationen im Studio. Der Sound ist seidenweich und lässt den übrigen Instrumenten stets genug Raum zum Atmen. Eine tolle Ergänzung zum 20“ Medium Ride, wenn es um die ganz leisen Töne geht.

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Flatride solo Groove Jazz-Groove
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FAZIT

Nach der erfolgreichen Neuauflage der „Giant Beats“ vor einigen Jahren hat sich Paiste nun tatsächlich an die sagenumwobenen Formula 602 gewagt, und ich kann aus voller Überzeugung sagen, dass die Rechnung aufgegangen ist. Es wurde im Vorfeld viel spekuliert, wie nah die neuen Becken wohl tatsächlich dran sind an den Originalen, und als Kenner der alten Formula 602-Becken behaupte ich, dass die aktuellen Modelle, vor allem das 18“ Thin Crash und das 20“ Medium Ride, teilweise noch besser klingen als die Originale. Lediglich das 16“ Thin Crash kann mich nicht gänzlich überzeugen. Ich wünsche mir, dass die neuen Formula 602 den Erfolg haben, der ihnen gebührt und dass romantische Träumereien von 20“ Thin Crashes, 15“ Hi-Hats, 22“ Rides oder China-Types vielleicht bald Wirklichkeit werden.

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Technische Spezifikationen
  • Material: B20-Bronze
  • Verarbeitung: dichte, feine Hämmerungsstruktur, feine Tonal Grooves bei Hi-Hats und Flatride, breitere bei Thin Crashes und Medium Ride
  • Finish: Traditional
  • Gewicht: leicht bis mittel
  • Preise in EUR (UVP):
  • 14“ Sound Edge Hi-Hat : 557,-
  • 16“ Thin Crash : 348,-
  • 18“ Thin Crash : 427,-
  • 20“ Medium Ride : 492,-
  • 20“ Medium Flatride : 492,-
Unser Fazit:
4,5 / 5
Pro
  • klassischer Retro-Sound
  • 18“ Crash und 20“ Medium Ride hervorragend
  • gelungene Vintage-Optik
  • sehr gute Verarbeitung
Contra
  • 16“ Crash fällt gegenüber 18“ etwas ab
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Paiste Formula 602 Test
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