Wes Montgomerys Bedeutung für die Jazzgitarre lässt sich mit dem Einfluss von Jimi Hendrix auf die nachfolgenden Generationen der Blues- und Rockgitarre vergleichen. Besonders seine virtuose Oktavtechnik sorgte für Aufsehen und ist seitdem ein wichtiger Bestandteil der Spieltechnik vieler Jazzgitarristen. Im heutigen Play-Alike Workshop wollen wir deshalb einen eingehenderen Blick auf das Leben der Jazzgitarren-Legende sowie auf dessen Einflüsse und Spielweise werfen. Anschließend werden wir uns drei Soloauszüge aus verschiedenen Jahren seiner Schaffensperiode zu Gemüte führen.

Biografie
Geboren wurde John Leslie „Wes“ Montgomery in Indianapolis im Jahre 1923 als drittes von fünf Kindern. Auch wenn Wes und zwei seiner Geschwister nach der Trennung der Eltern mit dem Vater für einige Jahre in Ohio lebten, sollte Indianapolis bis zum Lebensende die Heimatstadt der Gitarrenlegende bleiben. In vielen Quellen wird zitiert, dass Wes Montgomery erst im Alter von 18 Jahren mit der Gitarre in Berührung kam. In einem Interview mit seinem Bruder William „Monk“ Montgomery wird diese Behauptung jedoch widerlegt, da dieser ihm schon um 1935, also im Alter von 13 Jahren, eine Tenorgitarre besorgte, auf der Wes laut Aussage seines Bruders schnell beachtliche Fortschritte erzielte. Dennoch sprang der Funke bei ihm tatsächlich erst ein paar Jahre später über, als er Charlie Christian entdeckte. Christian, der als Urvater der E-Gitarre bezeichnet werden kann, hatte mithilfe der damals brandneuen Technik die Gitarre als Soloinstrument innerhalb der Big Bands etabliert und sie somit aus der starren Rolle der Rhythmusgitarre befreit. Laut eigener Aussage kaufte sich Wes daraufhin eine Gibson 125 D mitsamt Verstärker und fing an, Charlie Christians berühmtes Stück „Solo Flight“ nach Gehör zu lernen.

Spieltechnik
Zur Auseinandersetzung mit Wes Montgomery gehört natürlich seine sehr eigenwillige und autodidaktisch geformte Spieltechnik mit dem Daumen, mithilfe dessen er erstaunlicherweise alle spielerischen Herausforderungen von Single Note Lines über seine berühmten Oktaven bis hin zu geschmackvollem Comping scheinbar mühelos meistern konnte. Generell lässt sich sagen, dass Wes auch bei hohen Tempi, im Gegensatz zu seinen meisten Kollegen, immer erstaunlich entspannt wirkte. Das Videomaterial von ihm, das es inzwischen auch zum größten Teil bei YouTube zu sehen gibt, untermauert diesen Eindruck.
Zu seiner Spielweise gibt es ebenfalls eine schöne Anekdote die zwar nicht hundertprozentig belegt ist, dennoch in diesem Workshop nicht fehlen soll.
Als Wes begann, Gitarre zu üben, beschwerte sich seine Frau über die produzierte Lautstärke. Erst mit dem Weglassen des Plektrums und dem weichen Anschlag seines Daumens konnte er sie besänftigten. Durch die spezielle Spieltechnik wirkte der Daumen von Wes etwas verformt, wie sich ebenfalls auf Videomitschnitten beobachten lässt. Betrachtet man die nachfolgenden Generationen prägender Jazzgitarristen, sieht man sie diese Technik ebenfalls anwenden, jedoch meist nur partiell.
Das ist nicht weiter verwunderlich, da man mit dieser Art die Saiten anzuschlagen zwar einen sehr runden und warmen Sound erhält, technisch jedoch im Gegensatz zum Plektrumanschlag durch den Bewegungsablauf eher limitiert ist. Wes Montgomery hört man diese Limitierung jedoch überhaupt nicht an. In schnellen Passagen spielte er mit seinem Daumen zudem sogar im Wechselschlag.
Eine weiteres sehr wichtiges Merkmal seines Spiels sind die verwendeten Oktaven, die auch heute meist mit ihm verbunden werden, jedoch auch schon zuvor von Django Reinhardt eingesetzt wurden. Wes brachte diese Spielweise jedoch ohne Frage auf ein Niveau, das bis heute einen schwindelerregend Charakter hat. Bei der Oktavtechnik werden zwei Töne im Oktavabstand gleichzeitig angeschlagen, wobei die dazwischenliegende Saite mit dem Zeigefinger abgedämpft wird. Dies erfordert eine relativ starre Haltung der linken Hand, wodurch die Bewegung bei Tonsprüngen eher aus dem Arm resultiert. Die angesprochene Dämpfung der Saite zwischen den beiden klingenden Saiten hat zudem einen sehr charmanten, perkussiven Effekt zur Folge.
Betrachtet man Montgomerys Spiel, sollten außerdem seine äußerst virtuosen Akkordsoli nicht außer Acht gelassen werden. Näheres dazu ebenfalls später in der Soloanalyse.
Verwendetes Equipment
Die Archtop, mit der Wes Montgomery gemeinhin in Verbindung gebracht wird, ist eine Gibson L5 CES mit massiver Fichtendecke, die abgesehen von der noch größeren Gibson Super 400 das absolute Jazzgitarren-Flaggschiff aus dem Hause Gibson darstellt. Gibson bot Montgomery im Jahre 1964 ein Signature-Modell an, das er bis auf wenige Ausnahmen bis zu seinem Tod spielte. Im Gegensatz zum handelsüblichen Modell verzichtete man hier auf den Steg Humbucker, da er (wie auch viele seiner Kollegen) ausschließlich den Hals-Pickup nutzte. Durch seine spezielle Spielweise bildeten sich bei seinen Gitarren zuvor schnell Abnutzungserscheinungen am unteren Rand der Decke. Um diesen Spielspuren entgegenzuwirken, platzierte Gibson an eben jener Stelle eine Perlmutteinlage, die ich auch kürzlich noch bei einem aktuellen Signature-Modell entdecken konnte. Begonnen hatte Wes, wie anfangs erwähnt, auf einer Gibson ES 125 D, die damals deutlich preisgünstiger und mit zwei P 90 Tonabnehmern bestückt war. Abgesehen von ein paar Leihgaben bei Aufnahmen kam ein paar Jahre nach Beginn seiner spielerischen Laufbahn jedoch meistens die L5 zum Einsatz.
Außerdem bevorzugte er sehr dicke Flatwound-Saiten mit einer Stärke von 0.14 – 0.58.
Im Studio und Live nutzte er in der Regel Fender-Röhrenamps wie den Deluxe Reverb, den Tweed Reverb oder den Fender Twin. Vergleicht man seine Aufnahmen vom Anfang bis zum Ende seiner Karriere, dann fällt auf, dass sein Ampsound zu Beginn oft noch etwas harsch in den Höhen klang, später immer weicher wurde und so auch den Standard für die Ästhetik heutiger Jazzgitarrenaufnahmen mit traditionellem Charakter setzte.
Workshop
Im Workshop-Praxisteil nehmen wir uns drei Soloauszüge zu unterschiedlichen Songs aus verschiedenen Phasen der Karriere von Wes Montgomery vor.
Zuvor sei gesagt, dass dieser Workshop definitiv ein gewisses Maß an Spielkönnen erfordert, da es von Wes Montgomery eigentlich keine Soli gibt, die nicht äußerst anspruchsvoll wären. Außerdem war Wes in der Tat ein echter Improvisator, der es verstand, seine Soli mit einer sehr schön aufgebauten Dramaturgie zu versehen. Richtige Signature-Licks, wie bei vielen anderen bekannten Gitarristen, wird man bei ihm eher nicht finden. Dennoch gibt es natürlich einige Merkmale in der Melodieführung, der Phrasierung und im Soloaufbau, die er immer wieder gern einsetzte.
Insgesamt lohnt es sich auf jeden Fall, Soloausschnitte von ihm zu studieren. Dennoch muss es nicht unbedingt das Ziel sein, den kompletten Ausschnitt zu spielen, da einzelne Teile, wenn sie richtig verinnerlicht werden, ebenso das eigene Spiel positiv beflügeln und erweitern können. Daher gibt es zu allen vorliegenden Soli eine kleine Analyse. Die Materialien stehen zudem in Noten und Tabs bereit.
Für die Playalongs geht mein großer Dank an meinen Bruder Christoph Behm, der die Schlagzeugaufnahmen zu diesem Workshop bereitgestellt hat, sowie an Sebastian Strahl, den ihr auf den Aufnahmen an der Orgel hören könnt. Die Playbacks sind sowohl im Originaltempo als auch in einer deutlichen langsameren Version zum Üben vorhanden. Ihr könnt dabei wählen, ob ihr meine Gitarre dabei haben wollt oder nicht.
Sunny
Beginnen wollen wir den Workshop mit einem Auszug aus Bobby Hepps bekannten Song „Sunny“, den Wes im Jahre 1966 für das Verve Label in den Van Gelder Studios in New York aufnahm. Der Titel erschien auf dem Album „California Dreaming“, das, wie der Name schon vermuten lässt, einige Songs der damals aktuellen Hitparade in seichten Jazz-Arrangements präsentierte. So auch den Song „Sunny“, der im selben Jahr erschienen war. Die damalige Besetzung im Studio war zweifelsohne sehr hochkarätig. So saß beispielsweise der junge Herbie Hancock am Piano und Bucky Pizzarelli war einer der Rhythmusgitarristen. Für „Sunny“ kam allerdings eine abgespeckte Besetzung zum Einsatz. Wes wird hier im Original nur von Drums, Percussion, Kontrabass und Vibraphon begleitet. Auf der Aufnahme spielt Montgomery permanent in Oktaven. Nach zweimaligem Vorstellen des Themas geht es direkt ins Gitarrensolo. Eine Besonderheit dieses Arrangements ist, dass ab dem Solo die Tonart in jeder Formwiederholung einen Halbton nach oben transponiert wird – ein einfacher Trick, der unterschwellig für Abwechslung sorgt.
Wes spielt drei Solodurchgänge, bevor es in einen ausgedehnten Outro-Vamp geht, über den er weiterhin improvisiert. Heute würde man diese Aufnahme wahrscheinlich als Smooth Jazz deklarieren. Auch wenn die Rhythm Section die Dynamik im Verlaufe des Stücks steigert, bleibt die Begleitung durch das schwebende Vibraphon eher unaufdringlich. Nichtsdestotrotz gibt Wes Montgomery auch hier eine vorbildliche Lehrstunde in Sachen Motivaufbau und Verarbeitung. Ich habe für euch die letzten beiden Solo-Durchgänge vor dem Outro transkribiert. Bevor wir jedoch das Solo auseinandernehmen, wollen wir in das vorliegende Material reinhören.
Four on six
Der Song „Four On Six“ aus Montgomerys eigener Feder erschien 1960 erstmalig auf seinem zweiten Album für Riverside mit dem Titel „The Incredible Jazz Guitar Of Wes Montgomery“. Diese Platte wurde von den damaligen Kritikern hochgelobt und kann als sein Durchbruch in der Jazzszene betrachtet werden. Die Komposition an sich nahm Wes danach noch häufiger auf.
Ebenso ist der Song von einigen anderen populären Jazzinterpreten in den letzten Jahrzehnten aufgenommen worden und zudem auch im Realbook zu finden. Für den Workshop habe ich euch wieder zwei Solodurchgänge der ersten Aufnahme dieses Stücks transkribiert. Hören wir uns zunächst das Material an.
Down by the riverside
Für die Aufnahmen zu „Jimmy & Wes: The Dynamic Duo“ & „Further Adventures of Jimmy and Wes“ trafen 1966 mit Wes Montgomery und Jimmy Smith zwei echte Schwergewichte an der Gitarre und der Hammondorgel aufeinander. Leider sollte es bei dieser einmaligen Studiobegegnung bleiben. Nichtsdestotrotz kann man auf diesen Aufnahmen ein wahres Feuerwerk an spielerischer Energie erleben. Unterstützt werden die beiden auf den Aufnahmen von einer Big Band.
Das Konzept des Arrangements des vorliegenden Songs ist dabei denkbar einfach: Die Big Band stellt mit dem Thema zu „Down By The Riverside“, ein bekanntes Traditional vor. Danach geht es in einen schnellen Blues über den Orgel und Gitarre abwechselnd und am Ende auch gemeinsam in Quartett-Besetzung improvisieren. Nach einer Weile schalten sich die Bläser wieder hinzu, um die Energie noch weiter zu steigern und abschließend wieder ins Thema zu gehen.
Die Soli erfolgen über einen Blues in Eb. Nachdem Jimmy Smith in knapp vier Minuten zu Höchstform aufgelaufen ist, startet Wes Montgomery sein Solo und präsentiert in den folgenden Minuten ein Paradebeispiel zum Thema Soloaufbau. Dabei bedient er sich eines Konzepts, das sich bei ihm häufiger beobachten lässt. Los geht es mit Singlenote-Lines, darauf folgen seine berühmten Oktaven, die am Ende des Solos auf dem Höhepunkt in einem furiosen Block-Akkord-Solo münden. Ich habe euch aus allen drei Abschnitten Material transkribiert. Anfangen wollen wir dabei mit den Singlenote-Lines.
Hören wir uns jedoch zuerst das Material an.
Auch im zweiten Soloabschnitt kommt Wes Montgomerys Oktavspiel auch bei diesem schnellen Blues sehr leichtfüßig daher. In den vorliegenden zwei Soloformen präsentiert er dabei mit der 9,11 und 13 häufig Material aus der sogenannten Upper Structure der Akkorde. Nach einigen schönen Slides im zweiten Solodurchlauf beendet er die Form erneut mit einer II-V Line, die wahrscheinlich ebenso etwas Übung benötigt.