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Physis Piano H1 Test

Praxis

Piano-Sound

Das Physis Piano verfügt, wie bereits erwähnt, über sechs Klang-Kategorien, in denen sich jeweils 32 Presets und 32 überschreibbare Speicherplätze befinden. Den Anfang macht selbstverständlich die Kategorie Piano. Die 32 Varianten decken die gängigen Charakteristiken ab und tragen Namen wie (das obligatorische) Concert Grand, Jazz Aged, Hard Ambient oder Lennon Piano, wobei das Display das passende optische Äquivalent dazu anzeigt, z.B. einen weißen Flügel beim Lennon Piano. Vom mächtigen Konzertflügel über dezente Jazzpianos, knallige Rock’n’Roll-Klaviere bis hin zum CP70 oder dem experimentell anmutenden Mr. Cage sollte für alle Geschmäcker etwas dabei sein, wobei mir persönlich die Grand-Pianos besser gefallen als die Upright-Varianten. Bei manchen Sounds wirkt die Mittellage bisweilen etwas matt und nasal, der Diskant hingegen punktet mit verblüffender Ausdrucksstärke.

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Concert Grand Disused Baby Upright Closed

Das Grand-Piano ist insgesamt sehr natürlich, nuancenreich und in seiner Dynamik durchaus beeindruckend. Loops oder unsaubere Velocity-Switches sind aufgrund des Modelings kein Thema und die maximale Polyphonie ist unbegrenzt. Auch die mitgelieferte Dreifach-Pedaleinheit verwöhnt den anspruchsvollen Pianisten mit stufenloser Halbpedalerkennung, schön emulierten Damper-Release-Sounds, Sostenuto und Soft-Pedal. Vor allem aber macht die feine Abstimmung von Tastatur und Klangerzeugung das Klavierspiel auf dem Instrument zu einem echten Erlebnis.
Dennoch scheint das Physis H1 einer guten samplebasierten Klangerzeugung zunächst nicht eindeutig überlegen zu sein. Die Überlegenheit des Physical Modeling offenbart sich erst bei einer leichten Berührung des Buttons „Sound Edit“ auf der rechten Seite des Panels, der uns zur „Sound Engine“ führt. Nun öffnet sich die Tür zur großen, weiten Welt des Klavierbaus, und was das Physis Piano hier an Möglichkeiten bietet, ist in seinem Detailreichtum tatsächlich erstaunlich. Nahezu alle Komponenten, die für die Erzeugung des Klavier-Tons relevant sind, lassen sich an die persönlichen Bedürfnisse anpassen – also die Beschaffenheit der Hämmer, die Stimmung (auch für jede einzelne Saite), die Art der Besaitung, das Resonanzverhalten bzw. die Dämpfung sowie die Größe des Flügelkorpus und Resonanzbodens. Man kann sich unter anderem aussuchen, wie groß der Dämpfer ist, an welcher Stelle der Hammer auf die Saite trifft, wie laut das Klopfgeräusch der Klaviertaste ist oder wie viel Filz die Saiten am Stimmstock dämpft. Um diese Änderungen besser nachvollziehen zu können, werden die meisten Bedienschritte im Display grafisch unterstützt. Möchte man beispielsweise den Härtegrad der Hämmer verändern und wählt dafür einen elastischeren Filz, wird auch die weiche Filzschicht des Hammers im Display zunehmend dicker. Das klangliche Ergebnis ist ebenso deutlich: Der Sound wird matter und weicher.
Hier hört man die Veränderung beim Härtegrad des Hammers, angefangen beim ganz weichen Filz über eine mittlere Filzschicht bis hin zum harten Hammer mit viel Klopfgeräusch.

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Piano Hammer

Und hier ist zu hören, wie sich die Größe des Flügels auf den Klang auswirkt. Am Anfang ist der Korpus klein, dann mittelgroß, am Ende sehr groß.

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Piano Size

Wer den Unterschied akustisch nicht gleich wahrnimmt oder sich nicht sicher ist, wie sich beispielsweise die Duplex Vibration der Saiten auf den Klang auswirkt, der kann mit der „Help“-Funktion im Display eine Erklärung (in Englisch, Deutsch, Italienisch oder Französisch) aufrufen, die das nötige Hintergrundwissen liefert.
Mit dem Physical Modeling allein sind die Eingriffe in den Sound übrigens noch nicht erschöpft. Neben den Parametern für die Beschaffenheit des Pianos gibt es nämlich auch noch einen Kompressor mit Threshold, Ratio, Attack und Release, eine potente Amp-Simulation, eine umfangreiche Effektsektion mit Delay und diversen Modulationseffekten sowie einen Equalizer. Ein spartanischer, aber brauchbarer Hall ist ebenfalls an Bord. 

Fotostrecke: 2 Bilder Mit der Effektsektion können die Klänge verfeinert werden

E-Pianos

Für die naturgetreue Nachbildung von elektromechanischen Instrumenten hat man sich bei Viscount ebenfalls viel Mühe gegeben. Denn während akustische Pianos mit dem so genannten „APM“ (Acoustic Piano Model) emuliert werden, nutzt das Physis für E-Pianos die Technologien „EPM“ (Electric Piano Model), „WPM“ (Wurly Piano Model) und „CPM“ (Clavi Piano Model).
Das Physical Modeling der E-Pianos beruht auf der gleichen Funktionsweise, nur eben mit den Parametern, die der elektromechanischen Klangerzeugung zugrunde liegen. Beim Rhodes sind das Hämmer, Dämpferfilze, Tone-Bars und Tines (Klangstäbe), die man in Größe, Stärke oder Position justieren kann. Auch in diesem Fall liefert dies durchweg gute Ergebnisse. Das Rhodes klingt toll und authentisch und lässt sich dem eigenen Geschmack anpassen, je nachdem, ob man es glockig, warm, drahtig oder rotzig mag. So umfangreich wie bei den akustischen Pianos sind die Eingriffsmöglichkeiten aber bei weitem nicht, was unter anderem daran liegt, dass die Klangerzeugung eines Rhodes eben nicht ganz so komplex ist wie die eines Flügels. Ein wenig schade finde ich, dass man nicht am Tuning einzelner Tines schrauben kann, was den „Verwitterungsgrad“ eines alten Fender Pianos bei Bedarf doch unterstützen würde. Vor allem aber vermisse ich den Damper-Release-Sound, also das Geräusch der frei schwingenden Klangstäbe, das beim Treten des Sustain-Pedals entsteht. Auf die Reproduktion dieses typischen Merkmals wurde leider verzichtet, was für mich angesichts der sonstigen Detailverliebtheit nicht ins Bild passt.
Umso mehr kommen bei den E-Pianos die Amp-Simulation und die Effekt-Sektion zur Geltung. Bei den Presets finden sich bereits Varianten mit Phaser, Panning oder Touch-Wah, darüber hinaus gibt es noch die Möglichkeit, den Sound mit Delay, Chorus, Flanger, Tremolo, Vibrato oder Rotary anzufetten oder die Amp-Simulation mit unterschiedlichen Verstärkermodellen und Mikrofonierungen zu bemühen. 

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Vintage Case

Beim Wurlitzer Piano kann man ebenfalls an Hämmern, Dämpferfilzen und Klangzungen herumschrauben. Insgesamt klingt das Wurly aber nicht besonders realistisch, wobei der Bass und die Mittellage etwas stärker sind als der Diskant, hier wird der Sound merklich dünn und klirrend. Mit ein wenig Effekt und EQ kann man darüber hinwegtäuschen, aber in der Grundstruktur überzeugt mich diese Emulation leider nicht.

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Classroom Wurly

Das Clavinet macht dafür wieder mehr Spaß. Das Physical Modeling ermöglicht verschiedene Pick-Up-Settings und die Wahl der Filter (Brilliant, Treble, Medium, Soft) und des Dämpfers, was zwar mit einigem Getippe verbunden ist, aber für hörenswerte Ergebnisse sorgt. Außerdem kann man wählen, wie stark die Fäden am Stimmstock die Saiten abdämpfen und, als besonderes Feature, das Instrument künstlich altern lassen, was beim betagten Clavi zur Folge hat, dass die weich gewordenen Hammer Tips an der Saite kleben bleiben und ein schmatzendes Geräusch beim Loslassen der Taste erzeugen – ein nettes Detail. 

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D6 Clavi

Mallets

Die dritte Kategorie widmet sich den Mallet-Instrumenten. Mit dem Physical Modeling hat man Zugriff auf das Material der Klangplatten (Holz oder Metall), der Härte der Schlägel, den Rotor sowie die Position und Range des Anschlags. Die Position, an der die Klangplatte vom Schlägel getroffen wird, kann man sogar mit einem Control-Pedal in Echtzeit variieren, was einen außerordentlich hohen Facettenreichtum zur Folge hat. Überhaupt klingen die verfügbaren Varianten von Vibraphon, Marimba, Woodblock, Glockenspiel, Xylophon und Celesta durch die Bank so naturgetreu, wie ich es bisher bei kaum einer anderen Emulation gehört habe. Für die authentische Reproduktion von jazzigen Vibraphon-Passagen, Weltmusik und Ethno-Sounds sind die Mallets im Physis H1 ein großer Gewinn.

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Vibraphone

Weitere Sounds

Unter dem Begriff „Keyboard“ tummelt sich alles, was in den vorigen Kategorien keinen Platz mehr gefunden hat. Im Gegensatz zu den Pianos, E-Pianos und Mallets arbeiten diese Sounds mit Samples und sind 128-fach polyphon spielbar. Dazu gehören ein paar kuschelrocktaugliche DX7 E-Pianos, einige durchaus brauchbare Hammonds, Cembalo und Spinett, Kirchenorgeln in diversen Registrierungen sowie Akkordeon, Bandoneon und Harmonium. All diese Klangfarben klingen anständig und lassen sich für unterschiedlichste Stilistiken einsetzen. Die B3-Sounds sind sicherlich nicht vergleichbar mit den Möglichkeiten aktueller Hammond-Clones, dennoch sind Preset-Namen wie Mr. Lord, Mr. Brian oder Mr. Jimmy schon als ernsthafte Referenz zu sehen. Auf die Zugriegel hat man keinen Einfluss, aber zumindest kann man die Percussion und den Click-Level anpassen. Die recht gute Leslie-Simulation kann über das linke Pedal in der Geschwindigkeit geregelt werden. Die Cembali und Kirchenorgeln sind absolut gelungen und praxistauglich. Auch Akkordeon und Bandoneon gefallen mir sehr gut.

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B3 Mr. Lord Bandoneon

Die fünfte Kategorie heißt Ensemble. Wie vermutet sind hier Strings, Bläser, Chor und Pads versammelt. Die Streicher sind leider eine echte Enttäuschung. Obwohl es verschiedene Ensembles gibt, klingen die Presets nicht besonders authentisch. Auch mit den Chören kann ich wenig anfangen. Etwas mehr Freude kommt hingegen bei den Bläsern auf. Die Patches Velo Horns, Brass Band und Big Band kann man gut einsetzen. Den restlichen Teil der Ensemble-Sounds bestreiten ein paar Synth-Pads, die gute Hausmannskost sind, nicht mehr und nicht weniger. Wer schnell mal ein Sweep-Pad oder einen Oberheim Verschnitt benötigt, wird hier sicher fündig. 

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Chamber Strings Brass Band

Zum Abschluss gibt es noch eine Kategorie für Gitarren und Bässe. Der Upright-Bass macht Spaß, zumal das Geräusch von rutschenden Fingern auf den Saiten offenbar nach dem Zufallsprinzip eingestreut wird und einiges zur Lebendigkeit beiträgt. Auch ein Fretless und der Pick Mute Bass sagen mir zu, wohingegen die meisten anderen E-Bässe kaum Verve versprühen. Davon abgesehen finden sich hier ein paar unspektakuläre, aber anständige Synth-Bässe.

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Bass Upright

Die Gitarren hinterlassen ebenfalls einen geteilten Eindruck. Die akustischen Gitarren klingen ganz passabel, auch hier sind die Fretnoises eine nette Bereicherung. Bei den E-Gitarren finde ich allenfalls die jazzigen Halbakustik-Varianten sinnvoll. Warum man dem Physis noch alberne Stratocaster-Sounds eingepflanzt hat, ist mir aber ein Rätsel.

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Steel Guitar

Sonstige Funktionen

Das Physis Piano kann im Split oder Dual Modus betrieben werden. Dafür drückt man zwei Kategorien gleichzeitig, wobei der zuerst gedrückte Sound im oberen Tastaturbereich erklingt und der als zweites gedrückte folglich im unteren Bereich spielt. Allerdings kann man nicht zwei Sounds aus derselben Kategorie simultan benutzen. Hat man z.B. ein Piano und einen Kontrabass ausgewählt, kann man in dem daraufhin erscheinenden Screen mit F3 festlegen, ob man Dual oder Split-Mode möchte. Mit F4 wird der Splitpunkt festgelegt. Das ist denkbar unkompliziert und schnell gemacht.
Ferner gibt es einen Mixer, der für jeden Sound Lautstärke, Panorama, Effekt-Send und Reverb-Send verwaltet. Hier hätte das Physis von echten Potis oder Fadern profitiert; ohne selbige bleibt die Benutzung des Mixers leider mühsam. Im Funktionsmenü findet man das Metronom, das man in Tempo, Taktart, Betonung und Lautstärke variieren und zum MIDI- oder USB-Input synchronisieren kann. Außerdem kann man die Pedale konfigurieren, sprich ihnen diverse Control-Befehle zuweisen. Auch wenn das Physis Piano in Ermangelung von Spielhilfen wie Pitch-Bend oder Modulationsrad nicht primär als Masterkeyboard konzipiert ist, kann man dezidierte MIDI-Einstellungen vornehmen und filtern. Natürlich bietet das Physis Piano auch MIDI über USB.
Das gesamte Instrument oder einzelne Splitbereiche lassen sich transponieren und im Tuning verändern. Für die Darbietung von Alter Musik kann man von der wohltemperierten Stimmung zu anderen Stimmungen wie z.B. Valotti, Werckmeister, Kirnberger oder Pythagoreisch wechseln. Unter Setup finden sich Basisfunktionen wie Factory Reset, Software-Update und die Sprache des Help-Menüs. Hier kann man auch die kleine Uhr, die im Display oben rechts die Zeit anzeigt, stellen und ein- oder ausblenden.
Erwähnung finden soll auch noch der Recorder, der zwei Spuren MIDI oder Audio aufzeichnen und abspielen kann. Das ist zu Übungszwecken sinnvoll, zudem dient der Recorder als akustisches Notizbuch, das man bei Bedarf auch via USB exportieren kann. Umgekehrt kann der Player MIDI und Audio in allen gängigen Formaten von externen USB-Speichermedien abspielen.

Fotostrecke: 3 Bilder Die Bedienung über die Funktionstaster und den virtuellen Fader ist etwas umständlich

Bedienung

Das Aufrufen der Sounds ist zwangsläufig immer mit Scrollen oder Tippen durch die 64 Speicherplätze einer Kategorie verbunden, einen direkteren Zugriff gibt es leider nicht. Allerdings merkt sich das Physis Piano, welcher Sound in einer Kategorie zuletzt aufgerufen wurde. Mit der Memory-Funktion kann man eigene Klangkreationen inklusive aller Settings für Effekte, EQ und dergleichen abspeichern und benennen. Dafür stehen 32 freie Speicherplätze pro Kategorie zur Verfügung. Backups eigener Sounds sind über USB möglich.
Die klanglichen Möglichkeiten, die das Physis Piano dem Nutzer bietet, sind quasi unbegrenzt, und so dienen die 32 Piano-Presets nur als Beispiele dafür, wozu Physical Modeling in der Lage ist, nämlich den Wunschflügel in all seinen Einzelteilen zu generieren. Das setzt allerdings nicht nur voraus, dass man weiß, wie der Lieblingssound klingen soll, sondern auch, wie man dahin gelangt. Denn die Darstellung ist durch das grafische Display zwar übersichtlich, die Haptik und Bedienung des Multi-Touch-Panels finde ich hingegen nicht wirklich gelungen. Zur Auswahl der gewünschten Parameter muss man mit dem Cursor durch das Display steppen, zur Eingabe der Werte hingegen muss man den virtuellen Fader bemühen, der mich in seiner Funktionsweise leider nicht überzeugt, zumal das Display Änderungen meist erst mit einer gewissen Verzögerung darstellt. Zu allem Überfluss wird dann auch noch der Enter/Exit Button für jede Eingabe benötigt, man springt also munter zwischen den Eingabefeldern hin und her. Auch nach einiger Eingewöhnung läuft das nicht wirklich intuitiv, Instrumente wie das SV-1 von Korg oder das Nord Stage sind dem Physis in dieser Hinsicht haushoch überlegen.
Um die Bedienung insgesamt zu erleichtern, hätte ein Touchscreen (wie Korg ihn mittlerweile sogar in Einsteigergeräten verbaut) richtig Punkte gebracht, und obwohl das minimalistische Design gut aussieht, wäre mir ein physischer Fader oder ein Rädchen zur Werteeingabe allemal lieber gewesen als der bunt schimmernde 5-Segment-Fader unter der Glasoberfläche. Auch ein Editor für Mac und Windows, wie ihn das V-Piano von Roland bietet, wäre eine große Hilfe zum effizienten Schrauben am Sound. Leider gibt es so etwas für das Physis Piano nicht.
Ungeachtet dessen klingt das Instrument genau so, wie man es will, und zwar in allen Details. Ob man die sich bietenden Möglichkeiten vollends ausschöpft, hängt sehr vom Anspruch und Nutzungsverhalten ab. Manch einem mag der Facettenreichtum übertrieben vorkommen. Andere Pianisten werden sich darüber freuen, dass es ein Instrument gibt, das eben genau diese Eingriffsmöglichkeiten bietet. Übrigens: Wer sich dafür interessiert, welch winzige Nuancen bei den ganz großen Vertretern der Klavier-Zunft (Lang Lang, Alfred Brendel, Julius Drake u.a.) relevant sind, dem sei der Film „Pianomania“ ans Herz gelegt.

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