Sind Gesangsübungen überflüssig, um singen zu lernen?

Klassische Gesangsübungen, um den Opernklang zu entwickeln, gibt es bereits seit langer Zeit und über die Jahre haben sie sich nicht wirklich verändert. Klar, sie funktionieren ja auch. In den populären Musikstilen kam man immer schon ohne Übungen klar. Weder warm ups, noch technische Gesangsübungen waren üblich. Allenfalls greift man auf die altbewähren klassischen Gesangsübungen zurück, in dem Glauben, dass diese die Stimme schulen, pflegen und vorbereiten. Aber ob diese Übungen wirklich Einfluss auf die gesangliche Entwicklung eines Popsängers oder einer Popsängerin haben, möchte ich zur Diskussion stellen.

Teaserfoto: Shutterstock, Tero Vesalainen

Die Sänger/innen, die aus ihrer Leidenschaft einen Beruf gemacht haben, setzen sich vor allem mit dem Singen von Songs, im Gegensatz zum Üben von Gesangsübungen, auseinander. Denn als Popsänger/in absolviert man nicht erst ein Studium, bevor man auf die Bühne geht. Von Anfang an ist die Bühne das Studierzimmer.

Inhalte
  1. Muss man Talent haben, um singen zu lernen?
  2. Welche Gesangsübungen sind sinnvoll?
  3. Gibt es eine moderne Art singen zu lernen?
  4. Müssen wir die Stimme aufwärmen?
  5. Wieso tut es dennoch gut, wenn wir Gesangsübungen machen?
  6. Das muskuläre Gedächtnis
  7. Was kann ich tun, wenn meine Auftritte herausfordernd sind?
  8. Ein Tipp für alle Gesangslehrer/innen

Muss man Talent haben, um singen zu lernen?

Viele Popsänger/innen können singen ohne je eine Gesangsübung gemacht zu haben.

Aber muss man nicht üben, um gut singen zu können? Oder geht es allein ums Talent?


Und was bedeutet Talent eigentlich? Haben die talentierten Sänger/innen einfach von Natur aus die Fähigkeit, ihre Stimme so einzustellen, dass sie alles damit machen können? Oder ist es das Gehör, die gedankliche Erinnerung bzw. Vorstellung von Sound und Melodien, sodass diese Talentierten einfach alles richtig machen?

Zunächst einmal sollten wir uns fragen, warum wir bestimmte Sänger/innen für besonders talentiert halten. Was ist es, das uns an ihrem Gesang so beeindruckt?

Da wären Punkte wie Stimmklang, Variantenreichtum an Stimmsounds, Einsatz dieser Stimmsounds, um Emotionen auszudrücken, Intonation (Töne richtig treffen), Timing, Aussprache, Phrasierung, Improvisation, Dynamik und vor allem Selbstbewusstsein.

Hat man erst analysiert, was es ist, das gut gefällt, kann man sich konkret überlegen, woran man selber arbeiten möchte, um dem Vorbild näherzukommen. Und dann sollte man sich die Frage stellen, wie man das am besten üben kann.

Welche Gesangsübungen sind sinnvoll?

Ich erinnere mich noch an meinen ersten Gesangsunterricht in den 80er Jahren. Und daran, dass die Übungen meistens innerhalb der ersten fünf Töne der Durtonleiter gesungen wurden. Ich fing beim tiefsten Ton, den ich singen konnte, an und hörte beim höchsten auf. Es gab Übungen auf dem Vokal A und O für die Tiefen und U, Ü und I in der Höhe. Fünf Töne! Rauf und runter. Jeder kann diese fünf Töne singen. “Al-le-mei-ne-Ent-chen”, ja genau, “Alle meine Entchen” fängt mit diesen Tönen an.

Die beliebtesten Übungen waren “lululu lülülü lululu lülülü lululuuuuu” oder “mona mona mona mona mooo naaaa”.

Wofür diese Übngen genau gut waren und was sie bewirkten, wusste ich nicht. Und es wurde mir auch nicht erklärt. Nicht, dass ich nichts gelernt hätte in all den Jahren voller Lululus, aber es stellt sich mir heute die Frage, ob ich nicht schneller zu dem Resultat gelangt wäre, hätte man mir genau erklärt, was ich machen soll, damit ich meine Defizite beim Singen ausgleichen kann.


Natürlich ist es nicht verkehrt, Tonleiter singen zu üben. Denn das schult das Gehör. Vorausgesetzt man übt mit einem gestimmten Instrument und achtet darauf, dass man auf derselben “Welle” schwingt. Und auch das Üben von verschiedenen Silben ist hilfreich, weil es einem bewusst macht, was genau dabei passiert und wo die Unterschiede liegen zwischen den verschiedenen Vokalen und Konsonanten. Doch damals wurde nur auf das Klangresultat geachtet. Jemand machte es vor und ich sollte es nachmachen. Ich wurde nicht dazu angehalten, mein Instrument selbst zu spüren, zu erforschen und zu kontrollieren.

Gibt es eine moderne Art singen zu lernen?

Mithilfe von Stimmtechniken aus dem Estill Voice Training und CVT kann man heute viel schneller lernen, gesunde Stimmklänge zu erzeugen. Und zwar alle, die es gibt.

Kein Klang ist besser als der andere. Der Weg dahin geht über Bewusstmachung der einzelnen Strukturen in unserem Stimmapparat. Und natürlich geht es weiterhin nicht ohne unser Gehör. Das intuitive Imitieren von Stimmklängen bringt uns meist erst dahin, unser Instrument zu spüren und zu beobachten.


EVT und CVT bieten dafür auch einfache und gezielte Übungen an. Wenn du also den “Twang” üben möchtest, dann machst du die entsprechende Übung. Ob du dann mit dieser Übung die ersten fünf Töne der Durskala rauf und runter trällerst, ist dir überlassen. Du kannst auch einfach einen Song singen oder einen Text sprechen.

Müssen wir die Stimme aufwärmen?

Geübte Sänger/innen wissen es schon lange. Die Wissenschaft bestätigt es glücklicherweise auch. Nein, wir müssen unsere Stimme nicht fürs Singen aufwärmen.

Da gibt es ehrlich gesagt nicht viel, dass man aufwärmen könnte. Und außerdem sprechen wir mit demselben Instrument, mit dem wir auch singen. Einfach so. Ohne darüber nachzudenken. Eventuell müssen wir uns am Morgen etwas räuspern, weil Schleim auf den Stimmlippen sitzt. Und wenn wir heiser sind, dann braucht die Stimme eine Weile, bis sie wieder ganz schließt. Aber das ist ein anderes Thema.

Wieso tut es dennoch gut, wenn wir Gesangsübungen machen?

Ja, das ist eine gute Frage. Zum einen hängt das wohl damit zusammen, dass wir uns daran gewöhnt haben, uns aufzuwärmen oder Stimmübungen zu machen. Schließlich haben wir unsere früheren Gesangslehrer/innen geschätzt und ernstgenommen. Und das war ja auch gut so. Aber ehrlich gesagt möchte ich nicht mehr zurück in den Zustand der Abhängigkeit und Unsicherheit.

Die Befürchtung, dass ich meine Stimme zu stark belaste, wenn ich diese Übungen nicht mache, saß mir wie ein ständiger Kontrolleur auf der Schulter. Ich schätze, dass es vielen anderen Sänger/innen auch so geht. Doch kann ich nur empfehlen diese Gewohnheiten zu hinterfragen oder zumindest zu überprüfen, inwieweit sie wirklich helfen. Ich selbst hatte in der Zeit, als ich viele Auftritte hatte, das Gefühl, dass man mich nachts hätte wecken können und ich wäre sofort auf die Bühne gesprungen, um zu singen. Ich wusste einfach, wie es geht. Das ist der springende Punkt.
Hat man einmal gelernt, wie man seine Stimme einsetzen kann, geht es einfach immer. Das ist wie Fahrrad fahren. Rauf aufs Fahrrad und losradeln. Die Muskeln in deinem Körper machen automatisch das, was sie sollen, damit du nicht umkippst.

Das muskuläre Gedächtnis

Wenn man eine bestimmte Übung oft übt, merkt sich das Gehirn, wie viel Spannung bzw. Entspannung der Muskeln im Körper nötig ist, um die gewünschte Kehlkopfeinstellung und Stimmlippenspannung zu erlangen. Sämtliche Muskeln, die wir für das Singen benötigen, können lernen, in das richtige Spannungsverhältnis zu kommen. Das nennt man muskuläres Gedächtnis. Heute übe ich nur an Songs, die ich noch nicht in meinem muskulären Gedächtnis eingespeichert habe. Vor allem, wenn diese schwierig sind, braucht es etwas mehr Zeit und Geduld. Auch hier gilt die Wiederholungsregel. Die Stellen, die noch nicht gut klingen, werden einfach hunderte Male wiederholt. Notfalls reduziere ich das Tempo, um jede Silbe bewusst zu lenken. So oft und so lange, bis ich verstanden habe, was ich mit meiner Zunge, meinem Gaumen, meinem Kehlkopf und meinen Stimmlippen tun muss. So trainiere ich nicht nur die Aussprache, die Intonation, das Timing und den Klang der Stimme, sondern lerne ganz nebenbei auch den Text auswendig.

Was kann ich tun, wenn meine Auftritte herausfordernd sind?

Wenn ich während einer langen und anstrengenden Show merke, dass meine Stimme schlapp macht, dann ist es definitiv zu spät, um Übungen zu machen.

Dann hilft nur noch der Notfallkoffer.

Zum Beispiel:

– In den Pausen schweigen
– Viel Wasser trinken
– Die Muskeln im Körper dehnen und lockern
– Durch die Nase “leise einatmen”
– Lax-Vox-Schlauch benutzen.

Um herausfordernden Shows stimmlich überstehen zu können, bedarf es gründlicher Vorbereitung. Sport, Ausdauertraining, Yoga, Rücken- und Bauchmuskeltraining können dabei helfen.

Ich empfehle allen Sänger/innen, sich auch einmal mit den eigenen Taschenfalten auseinanderzusetzen. Am besten man sucht einen fähigen Gesangslehrer/in auf, um kraftaufwendige Stimmqualitäten wie z.B. Belting und alternative Sounds zu lernen.

Ein Tipp für alle Gesangslehrer/innen

Ich erlebe es immer wieder, dass Schüler/innen zu mir in den Unterricht kommen und auf Gesangsübungen bestehen. Obwohl ich ihnen immer wieder sage, dass es nicht nötig sei und sie lieber ihren Song singen sollen. Am Ende stelle ich immer fest, dass sie sich mit dem Lernen des Songs zu wenig beschäftigt haben und daher lieber nur Übungen machen wollen.
Und da fängt die Reise ins Fantasialand an. Denn die Übungen bringen dich deinem Song kein Stück näher. Die Probleme bleiben die gleichen. Viel wichtiger ist, zu lernen, wie man die Brücke zwischen der Übung und dem Problem in einem Song schlagen soll.

Als Vocal Coach gehe ich daher immer konkret auf die Passagen in einem Song ein, bei denen Schüler/innen ihre Probleme haben. Wir schauen hin, ob es z.B. mit der mangelnden Kraft im Körper zu tun hat, der Klang des Vokals die Herausforderung darstellt oder es an etwas ganz anderem liegt. Es kann alle möglichen Ursachen geben. Ist einmal die Schwierigkeit ermittelt – zum Beispiel ein Wort, eine Silbe oder ähnliches –, wird darauf die Übung aufgebaut, sodass die Stelle gezielt trainiert werden kann. Wir schauen also mit der Lupe auf genau dieses eine Problem und beheben es, indem wir analysieren und anschließend punktgenau korrigieren.
Zusammenfassend kann man sagen, dass Gesangsübungen sicher hilfreich sind. Aber nur, wenn man gezielt übt und weiß, an welchen Stellen man sich weiter verbessern will. Also übe lieber deine Songs anstatt ein klassisches Warm-up und Tonleiterübungen zu machen. Das ist definitiv die Autobahn zum erwünschten Ergebnis!



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Yoga für Musiker

Namaste – wie dir Yoga helfen kann, bei Auftritten besser zu singen.

05.04.2018
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