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Interview und Gear-Chat: Christin Neddens

Christin Neddens ist derzeit eine der spannendsten Newcomer der deutschen Drummer-Szene, die mit ihrem sympathischen und höchstmusikalischen Spiel und Wesen seit geraumer Zeit begeistert. Zurück von ihrem Studium an der USC in Los Angeles bei Peter Erskine und Jeff Hamilton, stellt die Wahl-Hamburgerin nun vor allem ihre Band „Orange Line“ in den Fokus, um ihr Portfolio als Schlagzeugerin sukzessive mit so viel eigener Musik wie möglich zu füllen. Mittlerweile hat sie sich zudem auch als Sideman einen Namen erspielt und kann nach Konzerten und Touren mit Big Bands sowie Jazz- und Popbands rund um den Globus auf einen riesigen Erfahrungsschatz zurückgreifen, von dem nicht zuletzt auch ihre Jazz- und Pop-Studenten in Hannover und Osnabrück profitieren. 

Foto: Detlev Klockow
Foto: Detlev Klockow


Wir trafen Christin zum Gespräch in Hamburg, das sich vor allem um ihr Studium in L.A., ihre Rolle als Bandleaderin, die Arbeit in (Big)Bands und ihre Auffassung von Musik drehte. 

Hallo Christin! Du hattest gestern mit deiner Band „Christin Neddens’ Orange Line“ ein Konzert in Hamburg. Erzähl doch mal über das Projekt…
Dadurch, dass ich stilistisch und vom Interesse her immer sehr breit aufgestellt war, habe ich als Sideman immer schon in verschiedensten Projekten unterschiedlichster Genres gespielt – von Jazz über Big Band, bis hin zu Rock, Funk und Soul-Projekten. Es war dennoch immer mein Wunsch, etwas Eigenes zu machen, denn eigene Musik zu schreiben und zu performen ist einfach enorm identitätsstiftend, wie ich finde. Nachdem ich stilistisch vieles ausprobiert hatte, bin ich jetzt da gelandet, wo ich herkomme, nämlich im Jazzrock- und Fusion-Bereich. Ich liebe die Freigeistigkeit und Interaktion im Jazz, gleichzeitig mag ich den Punch des Rock und die Klarheit im Pop – daraus ist nun meine Band „Orange Line“ entstanden. Meine Bandkollegen sind allesamt eher Leute aus dem Pop- und Rock-Bereich, die aber eben auch einen Sinn für interaktive Jazz-Exkurse und Improvisation haben.
Kannst du bestimmte Musiker oder Bands nennen, die dich dahingehend geprägt haben?
Das Studium und die Zeit in Los Angeles war am prägendsten für mich, was auch an dem dortigen Lebensstil und an der Lebensauffassung lag. Die Menschen dort verstehen es, hart zu arbeiten und ein hohes Risiko einzugehen, um ihr Ziel zu erreichen, wissen gleichzeitig aber das Leben sehr zu genießen – damit konnte ich mich sofort identifizieren. Ansonsten haben mich Bands wie Weather Report, Steps Ahead, Yellowjackets, Metro, sämtliche Big Band-Alben, aber auch Red Hot Chili Peppers, John Mayer, Steely Dan und Earth Wind & Fire sehr geprägt. Mit „Jaco Pastorius’ Word of Mouth Big Band“ bin ich groß geworden – meine erste Platte war „Invitation“. Rein Schlagzeug-technisch und geschmacklich bewege ich mich eigentlich immer schon gern im Spannungsfeld zwischen Keith Carlock, Wolfgang Haffner, Peter Erskine und Jeff Hamilton, von denen ich dann in L.A. vor Ort auch viel Vokabular und Lebensweisheiten mitnehmen konnte.
Bei „Orange Line“ spielt ihr ausschließlich Stücke aus deiner Feder. Wie gehst du beim Komponieren vor?
Ich komponiere oft ganz klassisch unter Zeitdruck am besten. Meist sind die Kompositionen die organischsten, die spontan aus einem herauskommen. Sobald man irgend etwas erzwingt, wird es oftmals kopflastig und schwermütig, was sich für meine Musik nicht eignet. Mich inspirieren gelegentlich Dinge, die ich irgendwo zufällig aufschnappe. Während meiner Zeit in L.A. habe ich es zum Beispiel geliebt, mexikanischen Radiosendern zu lauschen. Des Weiteren bin ich oft beruflich-musikalisch in Jordanien unterwegs – da laufen zuhauf spannende Musiken mit abgefahrenen Skalen und Rhythmen im Radio. In solchen Momenten halte ich das kurz mit dem Handy fest und bastel zu Hause am Klavier was draus. Wie beim Trommeln stehe ich bei Kompositionen auf Klarheit: Ich habe in L.A. in Kompositionskursen bei Bob Mintzer (Anm. d. Red.: u.a. Saxophonist der Yellowjackets) viele Big Band-Arrangements schreiben müssen. Da habe ich gelernt, wie man ein knackiges Thema schreibt, wie eine Form funktioniert und wie das Ganze organisch-rund wird. Es geht einem echt das Herz auf, wenn eigene Kompositionen am Ende mit den Ideen meiner Mitmusiker bereichert werden. Was Musik betrifft, kommt da emotional gesehen meiner Erfahrung nach nicht so viel ran! 

„Nachdem ich stilistisch vieles ausprobiert hatte, bin ich jetzt da gelandet, wo ich herkomme, nämlich im Jazzrock- und Fusion-Bereich.“ (Foto: Alex Bach)
„Nachdem ich stilistisch vieles ausprobiert hatte, bin ich jetzt da gelandet, wo ich herkomme, nämlich im Jazzrock- und Fusion-Bereich.“ (Foto: Alex Bach)

Wolfgang Haffner erzählte im Interview mit bonedo, dass er sich irgendwann bewusst nur noch auf seine eigene Musik konzentriert hat. Damit kannst du dich also auch identifizieren?
Absolut! Wie Wolfgang spielt, fand ich schon immer großartig und konnte das ästhetisch-musikalisch auch immer sehr nachvollziehen – ich habe wahnsinnig viel, wenn nicht sogar das Meiste, von ihm gelernt. Die Rolle des Sideman habe ich ehrlich gesagt auch ein bisschen satt, denn im Jazz-Bereich ist der Output manchmal ein bisschen zu gering für den Aufwand; nebenbei ist es nicht mein Ziel, ein Leben lang für ein paar Euros ausschließlich in kleinen Clubs zu spielen, auch wenn das superviel Spaß macht – vielmehr empfinde ich die Diversität unterschiedlicher Giggrößen und -arten derweil reizvoll! Mittlerweile sage ich bei Anfragen nur noch zu, wenn es mich musikalisch reizt und die Vibes stimmen. Neben den Konzerten bin ich ja zur Zeit auch noch als Dozentin in der Jazz-Abteilung in Hannover und in der Pop-Abteilung in Osnabrück unterwegs, wobei das zeitlich gerade immer schwieriger unterzubringen ist.
Wie Erskine, Hamilton und Haffner bist du ja auch eine gefragte Big Band-Schlagzeugerin und damit sicherlich eine der wenigen in deiner Altersklasse, die sich überhaupt noch intensiv mit diesem Bereich auseinandersetzen…
Ich habe im Alltag schon immer viel Sport, vor allem Mannschaftssport, gemacht – ich verstehe mich als Teamplayer in …führender Position (lacht) – Big Bands funktionieren da ähnlich und waren für mich demnach nie abschreckend, sondern immer ein reizvolles Teamprojekt, was ein tolles Wir-Gefühl kreieren kann. Mich hat außerdem schon als Kind die Professionalität von Radio-Big Bands fasziniert, eben dieses positiv abgeklärte, lässige Spielen. Big Band Drumming war für mich außerdem auch immer schon die perfekte Kombination aus unabdingbarer Klarheit, die ich im Pop liebe, dem energetischen Druck, den ich am Rock so sehr schätze und diesem Interpretations- und Interaktionsfeld, das ich im Jazz so mag. Ich bin dann recht früh in Jugend-Big Bands, Landesjugendjazzorchester etc. reingerutscht und hatte da gleich zu Beginn mit Jiggs Whigham für viele Jahre einen meiner größten Förderer zur Seite. Dadurch bildeten sich auch damals schon die ersten Kontakte nach Los Angeles, wie zum Beispiel zu Erskine oder Hamilton. Mich reizt obendrein auch die Rolle, die man als Big Band-Trommler hat, nämlich eher eine, die führend und nicht bloß bedienend ist. Das hat sich mit meinem Naturell schnell irgendwie stimmig angefühlt, den Laden mit Drive und Energie zusammenzuhalten und von hinten durchzuschieben. Man trägt in der Position natürlich auch viel Verantwortung, und das Risiko tief zu fallen, ist hoch. Dennoch, wenn der Laden erstmal läuft, kann man schon von einem tollen Lebensgefühl sprechen, welches ich auf jeden Fall sehr mag.
Christin in action:

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Wie läuft denn so eine Big Band-Anfrage im Normalfall ab? 
Es kommt natürlich immer auf das Material an, aber in der Regel gibt es im Vorfeld eine Durchlaufprobe oder auch nur eine kurze Soundcheck-Probe. Das Ganze steht und fällt natürlich mit einer guten Basis an Timing, Sound, Feel und Geschmack, was wiederum durch Spiel- und Hörerfahrung kommt. Sightreading Skills sind natürlich superwichtig, damit habe ich mich schon früh viel beschäftigt, es ist einfach ein notwendiges Tool. Für die Hochschulen habe ich da im Laufe der Zeit ein Konzept entwickelt, mit dem eigentlich jeder Student spätestens nach einem Jahr große Fortschritte machen kann, sofern er sich damit intensiv auseinandersetzt.
Was beinhaltet dieses Konzept?
Es geht dabei in erster Linie gar nicht um das Spielerische, sondern zunächst nur darum, Viertel- und Achtelnoten im Medium Tempo sicher zum Click „singen“ zu können, also bewusst nicht zu spielen oder zu klatschen, sondern wirklich erstmal nur zu singen, im Sinne der Haptik. Das Ziel dabei ist, das Schriftbild mit einem bestimmten Sound zu koppeln, das heißt, die Phrasen als kleine „Klangvokabeln“ zu sehen. Das funktioniert eigentlich wie mit Sprachen an sich. Wenn ein Kind das Wort „Baum“ lernt, hat das Wort einen bestimmten Sound und wird dann zusammen mit dem visuellen Eindruck eines Baumes abgespeichert. Genauso funktioniert es meiner Meinung nach auch beim Notenlesen. Wenn ich irgendwas noch nicht vom Blatt spielen kann, hat das also meist damit zu tun, dass ich die musikalische Phrase als Sound noch nicht ganz verstanden habe.
Spielen für dich Stress und Aufregung dabei eine Rolle?
Es war früher oftmals ein Problem für mich, dass ich im Proberaum sicher lesen konnte, aber wenn es dann drauf ankam, oft die gewisse spielerische Sicherheit fehlte. Das lag dann aber eigentlich immer daran, dass ich die Noten auf musikalischer Ebene noch nicht gut genug verinnerlicht hatte bzw. noch zu viel mit Körperspannung zu dealen hatte. Peter Erskine hatte das für mich partiell gut entschlüsselt, als er empfahl, vor allem Viertel- und Achtelnoten in binären und ternären Feelings unerschütterlich gut lesen zu können. Ich habe das Ganze dann über einen Tempobereich von ca. 50 bis 320 bpm ausgeweitet. Themen wie Körperspannung und Atmung sind dabei aber wie gesagt auch noch wichtige Teilaspekte. Ich liefere mich im Leben generell gern bewusst Extremsituationen aus, denn ich mag diesen positiven Stress bis zu einem gewissen Grad sehr und habe das Gefühl, dass das für alle Lebensbereiche gut trainiert.
Gut Noten lesen zu können macht jetzt aber sicherlich noch keinen guten Big Band-Schlagzeuger aus, oder?
Den Notentext so richtig „L.A. Studio“-mäßig lesen und spielen zu können – das heißt, nicht nur fehlerfrei zu spielen, sondern auch elegant, vorausschauend und lässig zu interpretieren und mit einer gewissen Selbstverständlichkeit und mitreißenden Energie zu spielen, ist die eine Sache. Hinzu kommt die zweite und interessante Stufe der musikalischen Interpretation. Ich habe in dem Zusammenhang zum Beispiel sehr viel mit dem Buch „Syncopation For The Modern Drummer“ von Ted Reed gemacht, meistens sogar nur mit den allerersten Exercises 1-8, die nur aus Vierteln und Achteln bestehen und sich wunderbar in zwei- oder viertaktige melodische Phrasen unterteilen lassen. Zunächst singe ich zum Beispiel die jeweilige Phrase zum Click, im zweiten Schritt versuche ich sie dann musikalisch zu interpretieren, beispielsweise durch unterschiedliche Orchestration, Verdichtung, Weiterentwickeln, Call & Response-Prinzipien etc. – eben um dem Ganzen musikalisch Leben einzuhauchen. Einen Groove kann man auch zwar irgendwie richtig spielen, aber das heißt noch nicht zwangsläufig, dass er dann auch gut klingt – dann gibts da noch die Aspekte Sound, Time, Timefeel etc. Ich erinnere mich zum Beispiel an eine Situation bei einer Masterclass mit Ndugu Chancler, in der ein Student von ihm einfach nur „Bumm Tschack“ ohne irgendwelche Variationen spielen sollte. Der hat in dem Moment alles richtig gespielt, aber Ndugu stoppte ihn und sagte „ok, alright, but now – give the music a little love“. Wenn man sich Videos von Ndugu anschaut, wird schnell klar, was er damit meinte, denn er selbst hat immer mit ganz viel Leidenschaft gespielt. Ich habe für mich daraus gezogen, dass die Basis gutes Handwerk und Präzision ist, dann aber beginnt der eigentlich spannende Teil – daraus nämlich Musik zu machen. Für mich ist es beim Groove-Spielen wichtig, auf Strecke zu denken und die „horizontale Ebene“ im Blick zu haben, denn nur dann führt das Ganze bezüglich Groove-Fluss und musikalischen Spannungsbögen irgendwohin.
Jetzt spielst du ja nicht nur in Big Bands, sondern auch häufig in kleinen und wesentlich leiseren Formationen. Fällt dir der Wechsel zwischen den verschiedenen Bereichen immer leicht?
Ich hatte eine Phase, in der ich in kleineren Besetzungen ein bisschen zu mächtig gespielt habe, weil ich es durch das viele Big Band-Spielen einfach so gewohnt war. Das habe ich mittlerweile aber besser unter Kontrolle und finde die unterschiedlichen Anforderungen von kleinen „Unplugged Setups“ bis hin zu großen Fusion Settings super. Ich habe zum Beispiel letztes Jahr ein paar Mal in der TV-Show „Pussy Terror TV“ von Carolin Kebekus gespielt. Da haben wir oft nur kurze Jingles performt, wobei es dort dann wieder auf ganz andere Sachen ankam. Die große Gemeinsamkeit, die in meinen Augen aber eigentlich alle Bereiche haben, ist das nötige Maß an Klarheit. Musik steht und fällt für mich immer mit Sound, Timing und Transparenz. Das mochte ich auch in L.A. immer sehr – die Musikerszene hat dort ein großes Bewusstsein für Groove, Timefeel und Konkretheit. Ich glaube auch, dass es in den anfänglichen Lehrjahren das Zusammenspiel und die Musik potenziert, wenn man zunächst einmal – unabhängig von der Stilistik – „geradeaus spielen“ übt, also Time und Groove-Fluss. Danach kann es immer noch virtuoser und experimenteller werden.

„Musik steht und fällt für mich immer mit Sound, Timing und Transparenz.“ (Foto: Alex Bach)
„Musik steht und fällt für mich immer mit Sound, Timing und Transparenz.“ (Foto: Alex Bach)

Du hast in L.A. bei Peter Erskine und Jeff Hamilton studiert. Wie war die Zeit für dich und was hast du in erster Linie aus dem Unterricht gezogen?
Mir hat in L.A. das Lebensgefühl wie gesagt sehr zugesagt. Wenn man dort ist, versteht man, weshalb Platten von Zappa, Red Hot Chili Peppers oder Earth, Wind & Fire etc. so klingen wie sie  klingen. Was ich an Peter und Jeff toll fand, war, dass sie nie versucht haben, mir ihren Stil aufzudrücken, sondern mich immer sehr darin bestärkt haben, mein eigenes Ding zu machen. Beiden war wichtig, eine solide Time, einen guten Sound und Geschmack zu entwickeln, im Sinne von „Serve the music“ und „Less is more“, und da haben natürlich beide, auch in ihrer Unterschiedlichkeit, richtig was zu sagen. Ich finde es total faszinierend, was für einen fetten, warmen Klang Jeff aus seinem kleinen Drumset holt, was auch mit diesem für mich typisch amerikanisch-lockeren Spielstil zu tun hat. In Sachen Big Band ist er natürlich auch einfach ‘ne wahre Hausnummer. Bei vielen Konzerten konnte ich bei Jeff und Peter direkt daneben sitzen – da habe ich verstanden, was für eine satte Dynamik-Range ein Drumset beim Big Band-Spielen und in der Musik generell haben kann – von extrem leise zu superlaut, aber immer mit einem fetten, warmen und vollen Klang versehen.
Vor L.A. hast du ja bereits schon ein paar Jahre in Deutschland und in Holland studiert. Würdest du dein Studium rückblickend genauso wieder machen?
Nein, ich würde mir wahrscheinlich hierzulande einfach einen sehr guten Lehrer suchen, der mir die Grundlagen beibringt, alles an Platten auschecken und dann schnellstmöglich rüber in die Staaten gehen, am besten gleich nach L.A., weil man da einfach gleich am Ort für super Kontakte ist. L.A. hat mich vor allem auch in puncto Lebenserfahrung und Persönlichkeitsentwicklung total weitergebracht, eben durch das, was man in den Straßen jeden Tag sah und durch herausfordernde  Umstände vor Ort und im Uni-Alltag. Als ich zurück in Deutschland war, hatte ich manchmal demnach das Gefühl, einen kleinen Erfahrungsvorsprung zu haben. Mit Erskine morgens früh im Unterrichtsraum zu sitzen oder unter enormen Zeitdruck Big Band-Kompositionen bei Mintzer schreiben – das war schon ganz schön heftig zeitweise. Sowas kannte ich aus meiner Zeit an deutschen Hochschulen in dem Maße nicht so sehr. 
Da du vorhin von einem typischen amerikanischen Spielstil gesprochen hast, drängt sich natürlich die Frage auf, ob es für dich auch musikalische Attribute gibt, die für dich typisch deutsch sind?
Generell fällt mir hierzulande vor allem in der Groove-Welt auf, dass, vielleicht auch bedingt durch das flächendeckende Matched Grip-Spiel, vor allem in die Trommeln „reingespielt“ wird, das heißt, weniger an Klang gedacht wird. In der Jazz-Welt fehlt mir hierzulande manchmal das Groove-Element im Sinne von Time-Fluss und Feel. Ebenso wird in der Groove-Welt seltener die volle Dynamikbandbreite ausgeschöpft, die Musik oftmals interessant macht. Der Anschlag ist oft eher hart, die Toms klanglich meist relativ tot, und es wird in den Kessel rein, anstatt aus dem Kessel raus gespielt. Pauker gelten ja nicht umsonst als Meister der Klangerzeugung und beschäftigen sich in den ersten paar Lehrjahren nur mit Einzelschlägen bzw. mit Fokus auf den Rebound der Schlägel. Für uns Schlagzeuger kann es glaube ich ebenso bereichernd sein, zu schauen, was passiert, wenn man dem Stick die größtmögliche Flugfreiheit gibt und nur minimal nachkontrolliert. Die Amis haben in Bezug auf den Anschlagsmoment des Stocks und Klangerzeugung diesen coolen Begriff „touch“, das trifft’s sehr gut.
Da muss ich an Keith Carlock denken, den du ja eingangs bereits erwähnt hast, der mit einer extremen Lockerheit spielt, gleichzeitig aber einen unfassbaren Wumms erzeugt…
Ja, das ist der Wahnsinn! Ich muss sagen, dass ich noch nie so richtig was mit dem reinen Bebop-Zeug anfangen konnte. Vielleicht deshalb, weil ich aus Norddeutschland komme und das Ganze rein kulturell so weit weg ist. Als ich dann Keith zum ersten Mal gesehen habe, dachte ich sofort „Der ist es!“ – er hat dieses jazzig-interaktive Spiel samt Stickings und gleichzeitig diesen warmen, fetten „Bonham-Punch“. Keith ist für mich einer der Allergrößten!
Du warst neulich bei Florian Alexandru-Zorns „OnlineLesson.tv“ zu Gast. Um welche Themen ging es dabei?
Die Themenfindung war eher spannend für mich. Ich kenne ja die Jazz-Abteilung ganz gut, aber eben auch die Pop-Welt ein wenig, und was mir oft fehlt, ist der Bereich dazwischen, den für mich zum Beispiel Leute wie Keith Carlock, Steve Gadd oder eben Wolfgang Haffner ausfüllen. Die haben allesamt einen ordentlichen Backbeat und viel Klarheit in ihrem Spiel, aber wenn man sich mal ein paar Solo-Passagen anschaut, findet man eben auch viel Jazz-Vokabular wieder, das ich sonst von Leuten wie Mel Lewis etc. kenne. Meine Erfahrung hat Folgendes ergeben: Wenn ich für Popdrummer einspringe, freuen die sich zum Beispiel oft darüber, dass in den freieren Passagen mal so eine andere Welt aufgeht, und die Jazzer beglücken sich meiner Beobachtung nach auch an Drummern, die mit klarem Timing-Bewusstsein und einer klaren Groove-Auffassung spielen.

Christin bei onlinelesson.tv:

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Hast du eigentlich ein festes Tuning oder stimmst du deine Trommeln je nach Situation und Stilistik?
Ich nehme mir meist sehr viel Zeit fürs Tuning. Seit einiger Zeit spiele ich ausschließlich Yamaha Sets, und das Tolle an diesen Trommeln ist, dass sie sich sauber und einfach stimmen lassen. Generell stehe ich total auf einen warmen und vollen Klang, erlebe es aber immer mal wieder, dass das manchen FOHs beim Soundcheck zu offen ist. Zwar bin ich der Meinung, dass sich das alles im Kontext super mischt, aber dann stimme ich eben einfach ein bisschen trockener und packe ein paar Minimuffs oder Damper Pads oben rauf. Aber klar, je nach Stilistik kann das Tuning sehr unterschiedlich sein.
Hast du bestimmte Felle, die du bevorzugst?
Ich benutze gerne Remo Ambassador oder Emperor Coated Felle als Schlag- und Diplomat Coated als Resofelle, wobei ich von Rossi Roßberg kürzlich den Tipp bekam, oben auch mal Remo Renaissance Felle auszutesten. Das probiere ich in Kürze mal aus! Auf die Bass Drum kommt eigentlich immer ein Powerstroke III, auf die Snare ein Ambassador Coated. Bei den Ambassador Fellen habe ich auf meinem Hybrid Maple Kit manchmal das Gefühl, dass mir das 16er Floor Tom bei sehr lauten Passagen ein bisschen „einknickt“. Equipment ist aber auch nicht immer so entscheidend. Der Sound kommt letztendlich doch aus den Händen, der Klangvorstellung, der Spielerfahrung und dem eigenen Touch. 
Du bist mittlerweile bei Firmen wie Yamaha, Meinl und Remo untergekommen. Hast du dich bewusst um die Endorsements gekümmert?
Nein, ich war musikalisch dahingehend anders sozialisiert – eigentlich hat sich alles irgendwie unter diversen Umständen glücklich ergeben. Ich bin super happy mit dem, was ich spiele und für den kooperativen und inspirativen Austausch und Support der Firmen dankbar – ich fühle mich da total zu Hause. Mit Yamaha Drums bin ich zum Beispiel groß geworden, und der Vertrieb von Yamaha Europe sitzt direkt bei mir um die Ecke in Hamburg – wer kann da noch widerstehen?! Im Jazz-Bereich ist ein Endorsement ja nicht unbedingt ein Indikator für Erfolg, da geht es um andere Sachen. 

Oft mit dabei: Das Meinl Jazz Club Ride. (Foto: Alex Bach)
Oft mit dabei: Das Meinl Jazz Club Ride. (Foto: Alex Bach)

Wie stehst du zum Thema Selbstvermarktung und Social Media?
Ich bin ehrlich gesagt ein bisschen überrascht, mit welcher Geschwindigkeit sich die Social Media-Welt entwickelt hat, vor allem in den den letzten ein bis zwei Jahren, und spreche auch oft mit meinen Kollegen hier und in L.A. darüber. Es gibt in dem digitalen Kosmos natürlich viel Käse, zeitgleich aber auch all das Positive, sei es mithilfe von Algorithmen und künstlicher Intelligenz das zu finden, was einen selbst bereichert und potenziert, oder auch für seine eigenen Sachen genau die richtigen Abnehmer bzw. Zielgruppe zu finden. Noch nie war es so leicht, seine Musik zu verbreiten und sich weltweit zu vernetzen. Mir ist klar, dass es möglich ist, die Girly-Karte zu spielen, ich denke aber, Metalsongs, performed in Spaghettiträger-Top, wird’s von mir nicht geben – obwohl, vielleicht aus Spaß mal, bei den Temperaturen grad?! (lacht)
Ich bin da einfach anders sozialisiert, musikalische Qualität und Geschmack sind mir wichtig, und durch die Arbeit mit Big Bands habe ich letztendlich gelernt, dass man sich nicht auf sein Alter oder sein Aussehen oder sonstwas verlassen kann, denn entweder man bereitet die „2 +“ gut vor oder eben nicht. Toll finde ich zum Beispiel Ash Soan. Der agiert immer wahninnig musikalisch, hat tolle und ganz unterschiedliche Tracks und zaubert immer was aus der Schlagzeugkiste – er ist eben einfach auch ein Weltklasse-Trommler. Um solche Art von Content soll es meiner Meinung nach gehen, und da arbeite ich gerade dran – demnächst wird es also von mir auf dementsprechenden Kanälen was zu sehen geben.
Was steht davon abgesehen noch auf dem Plan?
Ich habe in letzter Zeit immer mehr in die Drummer’s Drummer Szene hineinschnuppern können und fühle mich da sehr wohl – es ist absolut familiär, kollegial und integrativ, was mich an die Musikerszene in L.A. erinnert. In Zukunft möchte ich mehr in Richtung Workshops und Clinics gehen auf Basis meiner eigenen Musik, gleichzeitig so viel wie möglich mit meiner Band spielen und touren, am liebsten quer durch die Welt. Im Herbst diesen Jahres nehme ich mit meiner Band mein erstes Album auf. Das Unterrichten möchte ich langfristig nur noch sehr ausgewählt machen, um einfach so viel wie möglich auf der Bühne stehen und unterwegs sein zu können. Gerade stehen und standen wunderschöne Konzerte an: Elbjazz Festival in Hamburg, mit Nils Landgren im Konzerthaus Berlin oder das Open Jazz Festival Hamburg mit meiner Band „Orange Line“. Ich habe kürzlich ehrlich gesagt einen ziemlichen Cut gemacht und achte gerade sehr darauf, dass die Gigs, die ich annehme, immer etwas Konzertantes und sehr Besonderes haben. 
Vielen Dank für das nette Gespräch!

Christins Setup (Foto: Florian Alexandru-Zorn)
Christins Setup (Foto: Florian Alexandru-Zorn)
Christins Equipment:
  • Drums: Yamaha
  • Serie: Absolute Hybrid Maple oder Recording Custom
  • Größen: 20“ Kick, 10“ & 12“ TT, 16“ FT
  • Snares: Hybrid Maple 14“ Holzsnare, gerne auch mit Holzrims
  • Becken: Meinl
  • Serie: Byzance
  • Becken-Modelle:
  • 14“ Jazz Thin Hi-Hats
  • 20″ Vintage Trash Crash
  • 20“ Extra Dry Thin Crash
  • 20“ Extra Medium Thin Crash
  • 22“ Big Apple Dark Ride
  • 22“ Pure Vintage Light Ride
  • 20“ Club Flat Ride
  • Felle: Remo
  • Modelle:
  • Emperor oder Ambassador Coated als Schlagfell, Diplomat Coated als Resonanzfell auf Toms;
  • Powerstroke 3 Coated als Bassdrum-Fell, Ambassador Coated als Snare-Fell
  • Sticks, Brushes, etc.: Meinl
  • Modelle:
  • SD1 Concert
  • Standard Bamboo Rods
  • Bamboo Light Rods
  • Standard Wire Brush
  • Light Husk Brush
  • Medium Mallet
  • Sonstiges: Mr.Muff – MiniMuff, Muffkopf Standard & Deluxe

Website: www.christinneddens.de Instagram: https://www.instagram.com/christin.neddens

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Foto: Detlev Klockow

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