Vor ein paar Tagen wurde mir auf Instagram ein Reel der bekannten amerikanischen Mezzosopranistin Denyce Graves angezeigt. Darin spricht sie darüber, dass die wichtigsten Tage in einer Gesangskarriere selten mit der besten stimmlichen Verfassung zusammenfallen. Niemals, sagt sie sogar. An Tagen, an denen deine Stimme in Bestform ist, sei man zu Hause und mache seine Wäsche. Ein interessanter Gedanke – und ich frage mich: Stimmt das? Und wenn ja, was kannst du für eine gute gesangliche Leistung tun?

Du wirst nie nach deiner besten Gesangsleistung beurteilt
Schauen wir uns die Aussage von Denyce Graves mal genauer an:
„Ich glaube, du wirst nie nach deiner besten Gesangsleistung beurteilt. Nein. Ich glaube, du wird nach deiner durchschnittlichen Gesangsleistung beurteilt. (…) Der Tag, an dem du deine beste Stimme hast, ist der Tag, an dem du zu Hause bist und deine Wäsche machst. Es ist niemals der Tag, an dem du dein Debüt an der Met gibst.“
Ob das immer so stimmt, würde ich in dieser Vehemenz nicht unterschreiben. Aber wahrscheinlich fällt deine beste stimmliche Verfassung selten mit einem wichtigen Konzert, einem Showcase oder einer Gesangsaufnahme zusammen. Ich erinnere mich weniger an die Ausnahmemomente, in denen meine Stimme alles mühelos leisten konnte, was ich wollte. Viel präsenter sind mir die unperfekten Momente und Konzerte, bei denen ich weit weg vom Idealzustand war.

Was kann ein Stimmarzt tun, wenn ihr heiser singen müsst? Ein Erfahrungsbericht über Möglichkeiten und Grenzen.
Manchmal konnte ich sogar gar nichts dafür. Es waren äußere Umstände. Was aber im entscheidenden Moment niemanden interessiert! Und deswegen hat es einen großen Vorteil, so wie Graves zu denken. Du bereitest dich auf den Worst-Case vor und kannst alles, was darüber hinaus möglich ist, genießen. Und selbst wenn es kein Extra gibt, bist du trotzdem auf der sicheren, exzellenten Seite deines Gesangs.
Doing your Laundry – Die Gesangsparts rückwärts beherrschen
„Du musst deine durchschnittliche Gesangsleistung über die aller anderen heben.“
Halte dein alltägliches Gesangslevel auf einem verdammt hohen Niveau – das ist Graves‘ Rezept. Sorge dafür, dass dein Durchschnitt über dem der anderen liegt. Ich würde es so ausdrücken: Deine Technik muss sitzen und du musst deine Gesangsparts wirklich gut beherrschen. Und mit wirklich gut, meine ich WIRKLICH gut.
- Kannst du die Songtexte auswendig? Hast du sie dir übersetzt, wenn sie in einer anderen Sprache sind?
- Ist dir jeder Ton der Melodien klar?
- Weißt du, wie Phrasierung und Rhythmus verlaufen?
- Gibt es keine technischen Unsicherheiten mehr?
- Kannst du die Songs im Sitzen, Liegen, Rennen singen?
- Weißt du, wie deine Stimme klingt, wenn sie müde, schlechtgelaunt oder angeschlagen ist? Und lässt du dich davon im Konzertmoment nicht aus der Ruhe bringen?
- Hast du deine Performance im Griff?
Kannst du deine Songs genauso mühelos singen, wie du Wäsche wäschst? Das meint Denyce Graves natürlich nicht wörtlich, wenn sie von „doing your laundry“ spricht. Ich finde es aber im übertragenden Sinne einen guten Vergleich: unspektakulär, aber eben auch selbstverständlich.
Üben, bis das Muskelgedächtnis übernimmt
„Der Grund, warum wir üben, ist, die Muskeln zu trainieren, damit sie genau wissen, was zu tun ist, und sich an dieses Gefühl zu erinnern. (…) Denn an dem Tag, an dem diese Dinge passieren, gibt es so viele Emotionen und so viele Dinge, die einen ablenken können. Oder es ist die Nacht, in der man sich mit seiner Freundin gestritten hat, oder man hat zu viel Salz gegessen, oder es war trocken im Raum. Oder deine Stimme ist verschleimt. Oder was auch immer diese Dinge sein mögen, die auftreten, die ständig passieren.“
Singen ist Muscle Memory, keine Frage. Gesangstechnik bedeutet, den richtigen Ablauf einer Tonerzeugung so lange zu wiederholen, bis er im motorischen Gedächtnis unseres Körpers gespeichert ist. Es braucht ungefähr 10.000 Wiederholungen, bis die Synapsen gebildet und die Muskelbewegungsabfolge gespeichert ist. Wie beim Fahrradfahren, Schwimmen, Schreiben und Laufen. Das klingt erst mal mühsam, aber das Gute daran ist, dass wir, ab diesem Punkt beim Singen nicht mehr darüber nachdenken müssen.
Wenn wir eine sehr gute Gesangstechnik haben und unsere Songs richtig gut gelernt haben, können wir die einzelnen gesangstechnischen Bausteine abrufen, ohne uns übermäßig darauf konzentrieren zu müssen. Das ist besonders hilfreich, wenn wir in wichtigen Momenten körperlich oder emotional nicht in Bestform sind. Und die Wahrscheinlichkeit, dass das genau an wichtigen Konzerttagen passiert, ist hoch. Da stimme ich Denyce Graves voll zu.
Ohne Technik sind Sternstunden Glückssache
Wenn es richtig gut läuft, brauchen wir keine Technik. Das habe ich schon in mehreren Bonedo Artikeln geschrieben. Wenn wir in der ‚Zone‘ sind, können wir einfach laufen lassen und unsere gesangliche Leistung wird phänomenal. Vielleicht schaffen wir es auch, diesen Zustand bei mehreren Shows hintereinander abzurufen, aber wir sollten uns nicht darauf verlassen.
Je größer die Konzerte werden, je professioneller wir arbeiten, desto höher wird der Druck von außen. Die Erwartungen steigen, die Auftrittsfrequenz nimmt zu – und wir müssen immer häufiger in nicht idealen Momenten die Höchstleistung erbringen.
Zum Abschluss möchte ich deswegen mrbrown_voiceteacher zitieren, der das Reel mit Denyce Graves auf seiner Instagram Seite gepostet hat:
„Ein großartiger Künstler zu sein, bedeutet nicht, eine einzige magische Note zu treffen oder eine perfekte Darbietung zu liefern. (…) Beständigkeit, Zuverlässigkeit und künstlerisches Handwerk, über einen längeren Zeitraum hinweg, machen einen echten Profi aus.“




















