Guerilla-Gigging #4

Da ihr die  Grundzüge des Guerilla-Giggins ja mittlerweile sicher drauf haben werdet, wende ich mich diesmal an die hochspezialisierte Fraktion der “sitzenden” Gitarristen. Das Bewusstsein um den Stuhl, Nietzsche,Trillerpfeifen oder die Antwort auf die Frage: “Wie shanghait man einen Hocker?”

Shanghai09_01

Flughafen Frankfurt am Main: Die Duma von Krasnodar hat uns eingeladen, an den Festlichkeiten zum 214. Jubiläum der Stadt teilzunehmen. Das Kulturamt der Stadt Karlsruhe bezahlt unsere Flüge und lässt es sich nicht nehmen, meiner Ovation Doubleneck einen eigenen Sitzplatz im Flugzeug zu spendieren. Ansätze von Rockstar-Feeling machen sich breit. Wir bestellen also für diesen Extension Seat “Riffbratlinge an E-Moll-Jus und Kapodasterkeimlingen” als vegitarristisches Menü. Fliegen mit dieser Nummer auf; das Essen ist gestrichen. Aeroflot erlässt aber immerhin Flughafensteuer und Gebühren für diesen Sitz. Dezent gewandet und gut behütet stehen wir an der ersten Sicherheitskontrolle im Frankfurter Flughafen.

SecurityFFM

Der Beamte spricht mich sofort auf mein Doubleneck-Softcase an, das ich auf dem Rücken trage. Ob das denn eine Ovation sei und ob er sie mal sehen dürfe. Selbstverständlich. Da kein Softcase oder Gitarrenkoffer geöffnet wird, ohne dass man anfängt zu spielen, präsentieren wir direkt an der Sicherheitsschleuse einen Song aus unserem laufenden Programm. Wir drücken dem Security-Menschen die Gitarre in die Hand, um gleich darauf festzustellen, dass der Mann einen richtig flotten Draht zupft. Derart dezent und unauffällig aufgetreten, verwundert es nicht, dass der Beamte beim Durchleuchten unseres Gepäcks anfängt schallend zu lachen, als mein schwarzer tourerprobter Hocker mit einer Idealhöhe von 76,5 cm das Gerät passiert. Holz. Nichts als Holz. Jeder sitzende Gitarrist sollte den Hocker seines Vertrauens beständig mit sich führen.

Mundschutz

Dress like a rockstar, sit like a rockstar, become a rockstar. Nach einer intensiven Schnellverprobung der Möglichkeiten des Duty Free Shops gelangen wir an Bord des Fluges. Irgendwann fällt uns auf, dass das Flugzeug einfach nicht starten will. Dafür erhöht sich die Anzahl der passagierköpfezählenden Stewardessen erheblich. Mischen uns in das emsige Treiben ein und erklären, dass die Ovation ein Ticket aber keinen zu zählenden Kopf hat. Beziehungsweise zwei davon, aber das ist wieder eine andere Geschichte. Triebwerksgeräusche dämpfen Herrn Groeners Schnarchen.

Moskau/Russland: Ach, lassen wir das diesmal.

Krasnodar/Russland: Gemäß § 8 Abs. 3 der internationalen Rockstarverordnung werden uns zwei der schönsten Übersetzerinnen Russlands zur Verfügung gestellt. Die Polizeieskorte wartet und wir werden hochoffiziell zum Hotel “gerast”. Verlieren leider etwas an Haltung und bekommen das blöde Grinsen einfach nicht mehr von den Gesichtern. Es ist schick, Teil einer offiziellen Delegation zu sein. Mütterchen Russland nimmt uns in ihre Arme. Und wir lassen den Bär steppen. Mehr als 500 Musiker, Tänzer und Akrobaten sollen zwei Tage lang das Publikum der Stadt Krasnodar verzaubern. Und wir mittendrin. Die Organisation ist perfekt. Einzig und allein als wir für die Generalprobe die riesige Bühne betreten, kommt es zu einer Störung. Eine junge Dame erscheint mit einer der Organisatorinnen und fragt höflich, ob es denn möglich wäre, unseren Soundcheck für fünf Minuten zu unterbrechen. Ein weiteres Tanzballett aus Russland hatte es leider nicht rechtzeitig zu seiner Stellprobe geschafft und würde sich jetzt gerne für fünf Minuten die Bühne ausleihen. Der Band war sofort klar, dass man hier jungen Talenten helfen musste. Wir rücken unser Equipment etwas nach hinten. Verbleiben selbst jedoch auf der Bühne. Ich sitze da also vor mich hinnihilierend, betrachte die Tänzerinnen und denke an den alten Friedrich, der da einst sagte: “Ein Leben ohne Musik wäre ein Irrtum.” Oh, ja!

Showtime. Der Platz vor der Bühne ist brechend voll. Kein Wunder, schließlich hat die Stadt seit drei Tagen stündlich Werbung im Fernsehen geschaltet, in der unter anderem unser Auftritt angekündigt wurde. Ein Polizist bringt uns zu unserem Backstage-Zelt. Das Angebot der Festivalorganisation, für uns einen Visagisten abzustellen, haben wir ausgeschlagen. Selbst wenn es nicht schön ist, tragen muss man es können. Die Ovation rockt. Das Booster Set von Schlagwerk kesselt. Das Publikum jubelt frenetisch. Zu den 60 Milizionären an den Absperrgittern werden 20 weitere Sicherheitskräfte hinzugezogen, als Rapper Nesa und Sänger Joe die Showtreppe zur Absperrung hinunterstürmen, um T-Shirts von der Musikmesse Frankfurt 2008, Drum Sticks und Luftgitarren im Publikum zu verteilen. Ausnahmezustand. Zum Abschluss unseres Konzertes überreichen wir noch Frau Postrigan von der Duma eine badische Fahne, die wir ein Jahr lang mit uns um die Welt trugen und die von hunderten socialplastic-Fans weltweit unterschrieben wurde. Freundschaft! Ein Polizist kann seiner Begeisterung nicht anders Ausdruck verleihen, als dass er mir seine Dienst-Trillerpfeife schenkt. Große Auszeichnung! Backstage geht die Party weiter.

Moskau/Russland: Ein eifriger Flughafenmitarbeiter knöpfte uns auf dem Rückflug unser letztes Geld für “augenscheinliches” Übergepäck ab. Der elfstündige Aufenthalt in Sheremetjewo erinnerte dadurch etwas an “Warten auf Godot”. Doch socialplastic findet überall Freunde.

Equipment02

Zwei Prospects des schwedischen Hells Angels Chapter, die auf einem Bikermeeting in Moskau waren, zeigen, dass Rocker immer Rocker bleiben und versorgen uns mit den Grundnahrungsmitteln eines Rockstars. Hail, hail Rock’n’Roll!

Frankfurt Flughafen am Main: Déjà vu? Treiben uns häufiger in der Abflughalle herum, seitdem ich unseren Bandbus in einem roten BMW geparkt habe. Aber ich glaube, dieses Mal wären wir sowieso nicht mit dem Auto gefahren. Die Musikmesse Frankfurt hat zur Music China in Shanghai gerufen.

Shanghai/China:
Wow! Wenn Manhattan wie ein Ziergarten aussieht und London zum Vorort mutiert, der Kölner Dom ins Foyer des Hotels passt, Wanderer, dann bist Du in Shanghai. Schon schön! 22 Millionen Einwohner – mit Hang zu anarchistischen Tendenzen. “Hot Pot”-Restaurants, “Roller Coaster”-Taxifahrten und natürlich die Brücke, die über die Brücke führt, die über die Brücke führt, die über den Fluss führt. Freie Fahrbahnwahl für alle. Und die Mittelstreifen dienen nur zur Orientierung der Fußgänger, damit sie abschätzen können, wie weit sie die sechsspurige Autobahn in der Rush Hour bereits überquert haben. Wahnsinn, Wahnsinn, Wahnsinn.

PushMan

Es ist ganz normal und natürlich, dass an der Hotelrezeption schon die V.I.P.-Ausweise für socialplastic für die Music China bereitliegen. Von einer Strassenmusikertruppe im Jahr 2003 zu VIP’s auf der Music China 2007, ohne Plattenvertrag, ohne Budget, aber mit Ovation, Takamine, AER und Schlagwerk. Schöne Geschichte. Das dümmliche Grinsen, das wir von unseren Gesichtern in Russland kannten, macht sich erneut breit. Diesmal über alle vier Backen. Schon schön! Bevor ich von dem netten Europäer erzähle, mit dem ich mich auf der Messe so gut unterhalten habe, muss ich noch kurz den mobilen MacDonald’s auf dem Innenhof der Messe erwähnen. Innenhof auf der Music China bedeutet Frankfurter Flughafen ohne Flugzeuge.

Dass der Wahnsinn keine Grenzen kennt, zeigt sich wohl am deutlichsten daran, dass socialplastic als Band einen eigenen Stand am Nordeingang der Music China hat. An den Aufstellern wird in chinesischer Sprache die Band und ihre Geschichte vorgestellt sowie ihre drei täglichen Shows an dieser Stelle angekündigt. Weitere Shows finden auf den Bühnen im Innenhof statt.

Police

Auch zum Lucky Draw spielt socialplastic auf. Guerilla-Auftritte am Stand des Deutschen Ministeriums für Technologie und Wirtschaft und bei den österreichischen Kollegen sorgen zwar für kurzfristige Sicherheitsbedenken, aber wer einmal die “Free Willy”-Nummer von Nesa live erleben durfte (vom Made in Germany-Tresen ins chinesische Publikum hinein), der weiß, die wollen doch nur spielen. In einer der kurzen Pausen treffe ich unter anderen einen netten Europäer, mit dem ich sehr schnell über Musik, China, Gott und die Welt ins Gespräch komme. Er erzählt, dass er auch nur ein Musiker sei und hier ein bisschen ‘was mache. Mir fällt auf, dass ich mich noch gar nicht vorgestellt habe. Nenne meinen Namen und lade ihn ein, eine Show an unserem Stand anzuschauen. Er freut sich, gibt mir die Hand und stellt sich vor: “My name is Jonas Hellborg.” Oh, Frank!

Unsere Shows werden vom chinesischen Publikum sehr begeistert aufgenommen. Im Wortsinne. Enthusiastisch, neugierig, in Partylaune – das ist China für uns als Musiker. Schnell finden sich Menschen wie Frankie von KHS, die uns helfen, die hohen Sprachbarrieren zu überwinden, und zwischen uns und unserem Publikum vermitteln. Letztendlich bringen wir die chinesischen Besucher sogar dazu, mit ihrem Namen unseren Stand zu signieren.

Gilbert ist ein Kollege aus Mauritius, mit einer Finnin verheiratet, in Shanghai lebend. Er bucht uns sofort für ein Konzert im legendären Club Logo. Was für ein Abend. Wilder, bunter, lauter, verrückter haben wir es noch nirgendwo erlebt. Shanghai! Es ist unglaublich. Im Logo werde ich von der Ausgelassenheit und der Atmosphäre mitgerissen und wage es, einen Hocker des Clubs auszuprobieren. Schon schön! Tiefer, breiter und ergonomischer. Der Hocker wird requiriert. Teile dem Besitzer mit, dass ich diesen Hocker nun für ein Jahr mit mir um die Welt tragen werde, von Fans unterschreiben lasse und zur nächsten Music China wieder zurückbringe. Cultureclash! Chinese trifft Fremdling.

Fremdling kommt mit ZWEI Hockern zum Check In. Nach Einchecken aller Gitarren und Verstärker, des Booster Sets, des Logo-Hockers bleibt die Waage bei 149,5 kg von 150 kg erlaubtem Fluggepäck stehen. Mein schwarzes 76,5 cm hohes Standardmodell bleibt in Shanghai, steht so am Flughafen und wartet darauf, dass Herrchen zurückkommt.

Frankfurt am Main: Messehalle. Die Viva Touristika hat uns eingeladen. Unglaublich, was für Jobs einem in Shanghai angeboten werden. Schon schön! Durch unsere Reisen konditioniert, fühlen wir uns perfekt auf einer Touristikmesse aufgehoben. Ich unterhalte mich angeregt mit den ADAC-Mitarbeitern (Ihr wisst, der Bus, der BMW, das Geräusch), der Rest probiert einen Reisebus zu kapern oder gibt sich der Spirituosenfolklore des Schwarzwalds hin. Und nachdem ein Indianer seine zeremoniellen Tänze vorgeführt hat, betreten wir die Bühne. Coole Atmosphäre. Tolle Party! Und nachdem es für uns nichts mehr zu tun gab, beschließen wir, zur altbekannten Taktik des Guerilla-Giggins zurückzukehren. Unter den kritischen Augen eines Guinnes-Mitarbeiters (so stand es zumindest auf dem T-Shirt) wagen wir den Weltrekordversuch: Europe’s Most Hardworking Freeclimberband. Die Firma Globetrotter stellt uns ihre Kletterwand zur Verfügung. Joe und Nesa bekommen das Sicherheitsgeschirr angelegt. Mehrere Personen werden als Gegengewicht organisiert. Herr Groener und ich bilden das Basislager. Hurtig eingezählt und auf geht’s. Der Song ballert, vielleicht ein bisschen viel Gehechel am Zwischenlager 3 (50 cm über dem Boden), aber letztendlich triumphaler Schlussrefrain auf dem Höhepunkt. Der EMHF 2007 geht an socialplastic.

VivaHighClimb

Ob die Band die Klippen von Werne an der Lippe dieses Mal umschiffen konnte, warum Frank nicht mehr in der Paella-Pfanne schlafen muss, weshalb sich noch mehr Philosophen auf den Weg machen, ob die orangene Ovation T-Flame auch ihren eigenen Sitzplatz bekommt und weswegen es nicht wirklich hilfreich ist, im Flugzeug Gesichter auf Luftballons zu malen, erfahrt Ihr in der nächsten Ausgabe.

Mit musikalischen Grüßen
Frank Heydthausen
www.socialplastic.com

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