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Interview: Curt Cress – Es gibt noch so viel zu erzählen

Es vergeht gefühlt kein Tag, an dem man nicht mindestens einen Song, den Curt Cress am Drumset eingespielt oder produziert hat, im Radio, Fernsehen oder wo auch immer hört. Von welchem anderen Drummer kann man das schon sagen? Mit wem hat der Mann in den letzten fünf Jahrzehnten nicht alles Studio oder Bühne geteilt?! Statt jetzt aber zeilenweise Name-Dropping zu machen, sollten wir allgemein auf die Tatsache schauen, dass Cress für die Breitenwirkung des Schlagzeugs beim Publikum und das Verständnis der Schlagzeugerrolle in einer Band vieles erreicht hat, das nur mit dieser Erfahrung und Reputation möglich ist.

Curt Cress im Interview. Alle Fotos: Ingo Baron
Curt Cress im Interview. Alle Fotos: Ingo Baron

Davon und von vielem, vielem mehr erzählt Curt Cress im „Drumtalk“, einer Mischung aus Talkshow und Drumclinic, mit dem er durch kleine, feine Theatersäle tourt und der immer mehr Publikum anzieht. Es geht Cress dabei nicht darum, Fachwissen an die Apostel zu vermitteln, sondern vielmehr darum, die Leute, sein geliebtes Publikum, mit „Drums, Stories & Rock ’n’ Roll“ zu unterhalten. Entertainment stand und steht bei Curt Cress neben aller musikalischen und geschäftlichen Kreativität schließlich immer im Fokus. 

Wie kam die Idee zum „Drumtalk“ zustande? 

Eigentlich über meinen Schulfreund Werner Fromm, der ebenfalls Drummer ist und heute zusammen mit mir den „Drumtalk“ auf der Bühne macht. Er hat mich gefragt, ob ich nicht mal im Hinterzimmer eines Drumshops ein paar Trommlern etwas erzählen möchte. Es sollte kein Drumworkshop im üblichen Sinne, sondern eher ein Plaudern werden. Einen richtigen Plan gab’s zunächst nicht. Beim ersten Versuch ging es jedenfalls gleich stundenlang, und die Leute wollten gar nicht mehr nach Hause. Auch nach der eigentlichen Veranstaltung haben wir ohne Punkt und Komma weitergequatscht. Dann fragte irgendwann der „Brückenkopf“ in Hanau, ein Laden, in dem ich mit meiner alten Band Orange Peel immer mal wieder spiele, an, ob ich nicht auch dort einmal eine ähnliche Veranstaltung machen möchte. Das haben wir getan, und es wurde ziemlich unterhaltsam.

Dann kam das „Internationale Theater“ in Frankfurt mit einer Anfrage. Beim Wort „Theater“ ging bei mir gleich die Lampe an [lacht]: Theater bedeutet schließlich Kultur. Es musste dafür wohl alles etwas seriöser werden und eine Art Programm her. Also habe ich Videos und Musikbeispiele ausgesucht und versucht, das Ganze in eine chronologische Form zu bringen – vom meinem Anfang Ende der Sechziger bis vor 30 Jahren ungefähr. Das ist nun das Gerüst, aber ich erzähle immer wieder etwas anderes drumherum [lacht]. Die Premiere war ein voller Erfolg und ausverkauft. Dann kamen weitere Anfragen. 

Ich war und bin immer am Publikum orientiert, für das ich da sein, es begeistern und bewegen möchte. “

Hättest du je damit gerechnet, dass es eine solche Nachfrage nach einer doch ziemlich speziellen Veranstaltung gibt? 

Nein, das ist einfach der Wahnsinn, zumal ja nicht Fach-, sondern Theaterpublikum kommt – zu einem alten Trommler wie mir [lacht]. Andererseits trommele ich ja nicht den ganzen Abend, eigentlich sogar ziemlich wenig, sondern erzähle vielmehr mein Leben anhand der Werke, die ich gespielt, komponiert, produziert oder was auch immer habe. Das ist der Unterschied. Es geht mir um die Frage, was ein Schlagzeugerleben eigentlich sein bzw. was ein Schlagzeuger aus seinem Leben machen kann. Schlagzeuger sind aus meiner Erfahrung oft Akteure – Menschen, die neben dem Trommeln noch vieles andere machen und das auch wollen. Natürlich wollte ich zu Beginn in erster Linie in einer Band spielen, viel Geld verdienen und berühmt sein [lacht], aber ich hatte mit Mitte 20 schon so einiges erreicht.

Nach meinem Ausstieg bei Doldinger habe ich meine eigene Band gegründet und schnell gemerkt, wie anstrengend die ganze Organisation um das eigentliche Spielen herum sein kann. Alle Probleme kommen schließlich auf dich zurück. Zudem war mir früh klar, dass ich nicht im Alter für 50 Euro am Abend in irgendeinem Club spielen möchte – vor vielleicht 25 Leuten, die mein komisches Geschwurbel irgendwie gut finden.

Das war dir sehr früh schon bewusst? 

Ja. Ich war und bin immer am Publikum orientiert, für das ich schließlich da sein, es begeistern und bewegen möchte. Das habe ich dann ja auch gemacht. In diesem Kontext steht nun auch der „Drumtalk“, und ich finde es erstaunlich, welche Reaktionen beim Publikum manchmal hervorgerufen werden. Irre! Da ist von Gelächter bis hin zu Tränen alles dabei, und das gilt nicht nur für die älteren, sondern auch die jüngeren Besucher.

Es ist einfach eine große Welt, die ich in der Show zeige: von Orange Peel bis Udo Jürgens, von Freddie Mercury bis Meat Loaf, von Tina Turner zu Udo Lindenberg, von Nena zu Nina Hagen, von Peter Maffay zu Saga und den Scorpions. Da ist einfach alles drin – und man kennt die Songs. Die Art von Stories, die ich dazu erzählen kann, haben viele Leute noch nie gehört und bekommen sie normalerweise eben auch nicht erzählt. Mir war gar nicht klar, dass ich das mit dem Erzählen überhaupt kann [lacht].

Wenn man so aus dem Nähkästchen der internationalen Rockstars plaudert wie du, befürchtest du da keine Beschwerden? 

Die bösen Geschichten erzähle ich ja nicht [lacht], und allzu private Dinge gehören einfach nicht ins Programm. Es geht mir in erster Linie um die Arbeit und beispielsweise die Frage, wie man mit einem Freddie Mercury im Studio umgeht: Wenn du zusammen Musik machst, dann bist du gleich. Es geht lediglich um die Frage, was man wie zusammen erreichen möchte. Ob du ein Star bist oder nicht, spielt dafür keine Rolle. Selbst die Stars sind auch nicht in allen Belangen Profis, sondern die Perspektive dreht sich manchmal sogar um. Du bist also Kollege, und es gibt nicht das Verhältnis von Star zu Trommler. Das sind schöne Momente, von denen man auch ruhig erzählen kann. Es gibt natürlich auch peinliche Erlebnisse von mir, von denen ich ebenso berichte [lacht]. 

Wie schafft man es, bei einer Vita wie der deinen so auf dem Boden zu bleiben wie du? 

Das ist wohl eine Frage des Typs. Ich suche immer wieder nach neuen Dingen, und das Schlagzeugerdasein ist nur eines davon. Ich habe eine Plattenfirma, produziere und schreibe Musik für Filme und Serien, habe Filme produziert, war Vorstand einer börsennotierten AG und bin Professor an der Hochschule in Hamburg, auch wenn ich da heute seltener bin. In meiner Firma habe ich täglich unheimlich viel zu tun und junge kreative Leute um mich herum. Dazu kommen natürlich auch geschäftliche Herausforderungen – und eine Frau, drei Kinder und sechs Enkel [lacht]. Ich habe also, ums kurz zu machen, überhaupt keine Zeit, abgehoben zu sein. Ich war aber auch nie anders: An einem Tag bei Meat Loaf und am anderen bei Nicki [deutsche Schlagersängerin] oder wem auch immer zu spielen, das hat mir noch nie etwas ausgemacht – ganz im Gegenteil möchte ich in sämtlichen Kontexten das Beste liefern, das ich kann. Für Schlagzeugaufnahmen oder was auch immer gefragt zu werden, war und ist für mich immer eine Ehre. Irgendetwas für irgendjemanden also nicht mit voller Überzeugung und kompletter Leistung bis hin zur Mikrofonierung und so weiter kreativ zu entwickeln, das war noch nie mein Ding. Ich finde so was furchtbar.

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Du warst und bist also nicht nur als Schlagzeuger an den Aufnahmen beteiligt, sondern auch, was den Sound und dessen technische Herstellung angeht? 

Ja, klar. Es geht wesentlich immer um solche Fragen: Welche Snare oder Bassdrum nehme ich? Wie bekomme ich einen Groove so hin, dass die Ghostnotes und Backbeats im richtigen Verhältnis zueinander stehen? Wo stelle ich welches Mikro hin? Wie muss der Raum sein? Solche Dinge haben mich damals zum Produzieren geführt, denn mir ging’s irgendwann einfach auf den Nerv, am Schluss nicht entscheiden zu können, wie was klingen soll. Die einzige Konsequenz ist also folgende: Mach’s doch selber besser, du Idiot [lacht]! Du musst ja nicht die anderen anscheißen. Daher habe ich das auch gemacht, teilweise gut, teilweise habe ich mein Lehrgeld bezahlt. Genau das interessiert mich aber, denn ich möchte nicht stehenbleiben. Dass ich auf dem „Drumtalk“ hier und da jetzt auch Gäste wie zum Beispiel Wolfgang Schmid [Bassist und seinerzeit Cress’ Kollege bei Passport] dabei habe, ist wieder eine neue Entwicklung. Ich weiß noch nicht, was daraus werden wird – vielleicht ist es eine Vorstufe, irgendwann auch einen Keyboarder dazu zu nehmen und dann, ganz behutsam, eine komplette Band [lacht]. 

Curt Cress und Wolfgang Schmid sind seit langem ein eingeschworenes Team.
Curt Cress und Wolfgang Schmid sind seit langem ein eingeschworenes Team.

Wenn du für ein Projekt im Studio bist und, sagen wir, ungewöhnliche Vorschläge für Sounds und so weiter machst, ist das mit deiner Vita eine sicher willkommene Sache. Macht ein unerfahrener Jungspund das Gleiche, ist es eine andere, oder?  

Wenn der Jungspund phantasievoll und kreativ ist, dann darf und soll er jeden Vorschlag machen. Wenn die Leute um ihn herum nicht blöde sind, dann erkennen sie, dass der junge Mann oder die junge Dame kreativ ist. Ich selber war am Anfang meiner Karriere auch nicht anders. Du kannst einen Dieter Dierks [Produzent und Inhaber der legendären Dierks-Studios in Pulheim-Stammeln], der mich als Fünfzehnjährigen ins Studio geholt hat, gerne fragen. Auch da habe ich schon sehr unorthodoxe Vorschläge gemacht und es einfach geliebt, wenn das rote Licht für die Aufnahme anging – ohne Rotlicht wollte ich fast gar nicht spielen [lacht]. So kam eins zum anderen, und das über Jahrzehnte. 

Ohne ein Sprachrohr wie einen Dieter Dierks wäre also vieles nicht gelaufen? 

Sicher nicht, aber so funktioniert es ja immer. Der eine kennt wieder den nächsten. So ist das Leben.

War das alles damals anders als heute? 

Nein, heute ist es genauso. 

Selbst wenn große Studios nach und nach wegbrechen und die Leute allein im Homestudio hocken? 

Das finde ich für die jungen Musiker sehr schade. Du kannst heute auf YouTube so viele Klicks haben, wie du willst, von vielen dieser Drummer wirst du nie wieder etwas hören. Viele können trotz ihrer extremen Begabung mit echten Musikern kaum zusammenspielen. Es geht bei Musik um Gemeinsamkeit: Wie kommunizieren wir miteinander? Wie klingen wir zusammen? Ich habe damals als kleines Kind mit vielleicht elf Jahren immer schon mit Musikern zusammengespielt. Mir hat niemand etwas gezeigt, sondern da standen drei Leute und ich sollte mit ihnen mitspielen. So lernst du nach und nach, miteinander einen Sound zu erzeugen. Da ist mitunter schon die Frage wesentlich, ob ich vielleicht einfach zu laut spiele. Für die Kids sind die Schulen und Lehrvideos im Internet auf der einen Seite supergeil und gleichzeitig superscheiße auf der anderen: Du kannst zu so vielen Camps gehen und so viel studieren, wie du willst, es ist alles vergebens, wenn du keine Leute zum Musikmachen in deiner Umgebung hast.

Es geht bei Musik um Gemeinsamkeit: Wie kommunizieren wir miteinander? Wie klingen wir zusammen?”

Du musst die Sachen einfach anwenden, sonst ist es so, als ob du zwar einen Führerschein hättest, aber nie ein Auto im Straßenverkehr fahren würdest [lacht]. Das fehlt bestimmt vielen. Damals [1982] wurde genau aus diesem Grund der Popkurs in Hamburg gegründet: Es ging und geht auch heute darum, Leute zusammenzubringen, die sich nicht kennen und die sich vermutlich auch nie treffen würden – die aber etwas Eigenes haben. Es ging mir bei der Auswahl der Studenten nicht darum, dass die Drummer technisch viel können mussten, sondern sie mussten irgendetwas Bemerkenswertes, irgendeine Idee, haben. Darum geht’s letztendlich immer. Die technischen Fähigkeiten, die du zur Umsetzung dieser Idee brauchst, die musst du dann lernen. 

Kann die Technik da auch hinderlich sein? 

Nee. Ich bin ganz sicher, dass ich, wenn ich mehr gelernt hätte, ein besserer Trommler geworden wäre. Ich kann bestimmte Dinge einfach nicht, aber mache sie dafür so, wie ich sie eben mache. Das mag gut oder schlecht sein, wer weiß das schon so genau. Die Frage lautet immer: Was bringt dir dies und jenes musikalisch? Ich bin im Selbstverständnis auch nie ein Studiomusiker gewesen, denn mich haben die Leute ja nicht gebucht, um mir Noten hinzulegen und von mir zu verlangen, dass ich sie spiele. Sie haben mich geholt, um von mir eine Antwort auf die Frage zu bekommen, was ein Schlagzeug an dieser oder jener Stelle spielt. Das  kreativ zu entwickeln, das war meine Leistung. Viele Entscheidungen dafür habe ich getroffen und niemand anders. Nur ein Notist zu sein, der nach Befehl die Arbeit abliefert, das hätte ich nicht gewollt – und auch nicht gekonnt [lacht]. 

Du hast im Studio die komplette Entwicklung von „gar kein Clicktrack“ bis zum „Quantisierungswahn“ und aktuell zum hineingerechneten „human factor“ mitgemacht. 

Vieles davon war und ist Bullshit. Ich war allerdings damals lustigerweise einer der ersten Drummer, die einen Click benutzt haben, und zwar ein aufziehbares Taktell: Mir ging bei einer Produktion einfach die Diskussion um das Langsamer- oder Schnellerwerden auf den Geist. Waren’s nun die Gitarristen, war’s der Drummer? Also haben wir das Taktell aufgenommen, bis es selber wegen des Aufziehens wieder langsamer wurde [lacht], und es als Click benutzt. Damit war die Diskussion vom Tisch [lacht]. 

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Es gibt Schlagzeuger, die werden für ihre Arbeit sehr, sehr gut bezahlt, und andere, die nicht so gut bezahlt werden. Woran, denkst du, liegt das? 

An dir selbst. Ich zum Beispiel habe mein Selbstwertgefühl im Griff gehabt. Wenn ich gesagt habe, dass ich jetzt soundsoviel koste, dann haben sich die anderen Musiker oft nach mir gerichtet [lacht]. Irgendwann hat mir ein Produzent gesagt, dass ich ja wohl bescheuert sei, zehn Stücke am Tag für, sagen wir, 2.000 Mark einzuspielen. 1.000 Mark pro Song wären auch okay, weil es einfach bezahlt würde und letztlich für die Produktion sogar günstiger wäre: Andere machen halt einen Song pro Tag, und ich habe vielleicht zehn am Tag gemacht. So sparte die Produktion letztlich Geld, wenn man an Studiozeit, Tonmeister, Hotelkosten und so weiter denkt. Ich war halt sehr schnell. Da ich irgendwann mein eigenes Studio und dementsprechend alles aufgebaut und mikrofoniert hatte, fiel sogar noch die Soundcheckzeit weg. Die Geschwindigkeit des Ablieferns war also extrem hoch, sodass die Preise dafür okay waren. 

Heute undenkbar? 

Naja, was ich damals gekostet habe, dafür wird heute eine ganze LP produziert. 

Curt Cress und Wolfgang Schmid beim Soundcheck in Frankfurt.
Curt Cress und Wolfgang Schmid beim Soundcheck in Frankfurt.

Aber gerade das Thema Homerecording, also in einem gewissen Sinne das ‚eigene Studio‘, ist ja heute noch viel verbreiteter als damals. 

Richtig. Die Frage ist allerdings, wie originell heute noch jemand klingt. Viele verlaufen sich bei den technischen Möglichkeiten und machen zu viel. Manchmal ist es einfacher, eine Nummer schlicht und ergreifend gemeinsam einzuspielen. In vielen Produktionshirnen wird manches überstrapaziert. Warum muss der Keyboarder auf einmal alles wissen? Ich merke immer wieder, dass die richtig großen Sachen dann doch wieder live im Studio gespielt werden. Woher kommt das wohl? Du holst einen Pino Palladino für den Bass, damit er so spielt, wie er spielt, und nicht, damit er die Noten spielt, die du ihm sagst. Nur so bekommst den „spirit“ in die Band, den du an diesem und jenem Musiker gut findest. Selbst Taylor Swift oder Lady Gaga holen, obwohl die Produktionen schon ziemlich maschinell sind, an den wichtigen Stellen wieder Musiker ins Studio. Auf der anderen Seite kommen heute viele Produktion von Künstlern raus, die früher das Licht des Studios nicht einmal aus fünf Kilometer Entfernung gesehen hätten – und das war eigentlich damals auch ganz gut so [lacht]. 

Eine Selektion findet ja heute kaum noch statt. 

Ja. Auf der einen Seite ist das demokratisch und auch sehr schön, auf der anderen müllt es aber auch vieles einfach zu. Acts wie Billie Eilish hingegen wären ohne diese verschlungenen Homerecording-Wege vielleicht nie entstanden. Aber so was passiert dann doch eher selten.

Wir Künstler sind dazu da, den Leuten Freude zu bereiten, sie zu Tränen zu rühren oder was auch immer. Dafür muss uns halt etwas einfallen.”

Wo wird diese Entwicklung hingehen? 

Ich merke was am „Drumtalk“: Dass ein Trommler allein auf der Bühne steht, seine Geschichte erzählt und, obwohl er seit 30 Jahren im Prinzip als Drummer kaum mehr in Erscheinung tritt, so viele beziehungsweise sogar immer mehr Menschen kommen und auch die großen Zeitungen so interessiert sind, zeigt, dass die Menschen einfach etwas erleben wollen. Deswegen kommen sie und hören sich meine Geschichten an. Wenn ich die Sachen dann noch lustig erzähle und gut Schlagzeug spiele, dann unterhält’s die Leute umso mehr. Es wird immer die Menschen geben, die nach etwas suchen, das sie unterhält – wir sind die Affen, die das Theater dafür machen müssen [lacht]. Wir Künstler, und dazu zähle ich mich gerne, sind dazu da, den Leuten Freude zu bereiten, sie zu Tränen zu rühren oder was auch immer. Dafür muss uns halt etwas einfallen. Die Leute können sich heute ja rund um die Uhr mit Musik, Filmen, Serien und so weiter allein unterhalten – aber ihnen ist doch irgendwie langweilig. Sie wollen raus und zahlen deswegen mehrere hundert Euro für einen einzigen Künstler, den sie dann aufgrund der großen Entfernung zur Bühne doch nur auf dem Screen sehen. Aber: Das gemeinschaftliche Erleben, das macht uns als Menschen aus. Wir wollen zusammen in der Höhle sein, nicht allein.

Mit deinen Soloprojekten, Schlagzeugsoli und letztlich auch deinen üppigen Schlagzeugaufbauten in den Achtziger- und Neunzigerjahren hast du ja auch genau diesen Weg verfolgt und bewusst das Publikum mitgenommen. 

Genau, darum geht’s! Wenn du die Sachen heute hörst, dann begeistern sie auch mich immer noch. Damals gab’s natürlich keinen richtigen Plan dafür, ich bin mit Udo Arndt [Tonmeister u.a. für Nena, Rio Reiser u.v.m.] ins Studio und hab einfach gespielt. Bei „Avanti“ [1983] zum Beispiel gab’s nur Schlagzeug, total verrücktes Zeug und ziemlich unkommerziell. Aber so wie Udo es klanglich eingebettet hat, funktioniert es einfach – ganz große Kunst. Das alles war für mich damals auch ein Ausgleich zu den kommerziellen Sachen. Wir haben tagelang Snares ausprobiert und für die Aufnahmen Räume gestaltet. Du brauchst dafür einfach Leute, die sich in die Sache richtig reinfallen lassen können und ein gutes Gehör haben. Grundsätzlich kann ich zwischen den Welten von Kommerziellen und Forschendem sehr gut hin und her schalten und fühle mich dabei nie vergewaltigt. Alles ist Musik, und alles kann interessant sein. Wenn du kreativ bist, nach vorne und modern denkst, dann ergeben sich immer neue Dinge. Mein Gehirn denkt da sehr weit.  

"Das gemeinschaftliche Erleben, das macht uns als Menschen aus. Wir wollen zusammen in der Höhle sein, nicht allein."  Curt Cress
“Das gemeinschaftliche Erleben, das macht uns als Menschen aus. Wir wollen zusammen in der Höhle sein, nicht allein.”

Wie sieht heute dein Alltag aus? 

[Lacht.] Nun ja, so eine Sache wie „Drumtalk“ ist für mich Urlaub, ein Spaß, der mir ein unglaublich zufriedenes Gefühl gibt. Normalerweise stehe ich morgens auf, höre Nachrichten, lese Mails. Um neun kommt meine Juristin ins Büro, das direkt neben meiner Küche liegt. Dann kommen Komponisten, und wir arbeiten gemeinsam an Musik, zum Beispiel für Serien. Zudem gibt’s auch bei meinem Plattenlabel immer viel zu tun: Verlage, Verträge und alles mögliche. Ich habe so den ganzen Tag lang mit meinen verschiedenen Firmen, Entscheidungen und Meetings zu tun. Zudem denke ich natürlich auch über eigene Projekte nach. Es ist alles relativ durcheinander, und ich schätze, mancher würde vor meinem Tagesablauf kapitulieren. Es ist wie früher: Ich muss ständig schnell Entscheidungen treffen. Bei alledem arbeitest du natürlich auch mit Menschen, die auch wieder ihre eigenen Geschichten haben, die man berücksichtigen muss. Das alles zusammen macht mir komischerweise jede Menge Freude, obwohl andere daran vielleicht zugrunde gehen würden. Es hängt einfach davon ab, wie man gestrickt ist: Ich bin in einem Hotelbetrieb mit wirtschaftlich denkenden Menschen um mich herum aufgewachsen und weiß deswegen, obwohl man’s mir nicht dezidiert beigebracht hat, dass ein Betrieb einfach laufen muss. Das ist nun mal Arbeit. 

Wie viel Zeit bleibt da zum Schlagzeugspielen? 

Gar keine. Ich habe, glaube ich, im September das letzte Mal vor der „Drumtalk“-Tour Schlagzeug gespielt. Ich möchte so oft üben, aber meistens klappt es dann doch nicht. 

Spielst du heute noch Sachen im Studio ein? 

Ja, aber nur hier und da, wenn Bekannte mich anrufen. Wenn das Projekt interessant ist, dann spielt das Geld für mich auch keine Rolle. Diese Neugier habe ich nie verloren und finde so was nach wie vor einfach geil! Wenn ein kommerzieller Act aber das große Budget hat, warum sollen die mich dann nicht bezahlen?! Ich habe ja seinerzeit die hohen Gagen auch verlangt, weil ich weniger spielen wollte: Es war mir teilweise alles ein bisschen viel geworden, und ich wollte einfach mehr produzieren.

Curt Cress, fotografiert von Ingo Baron.

An einem einzigen Tag nach Los Angeles und wieder zurück zu fliegen, das musst du auch nicht immer haben. Ständig nur im Flugzeug zu sein, hältst du auf Dauer nicht aus. Ich hab’s lang genug gemacht.

Als ich damals das konkrete Angebot hatte, komplett in die Staaten zu gehen, habe ich mir überlegt, dass ich das alles, was mich dort erwartete, ja hier in Deutschland irgendwie schon hatte. Damals, mit 36 Jahren oder so, wollte ich einfach nicht in Amerika noch einmal anfangen müssen. Das Produzieren hierzulande schien mir da logischer. Ich hatte auch das Gefühl, dass in Amerika so langsam die Luft raus war – und nach und nach gingen viele große Studios tatsächlich pleite. Richtige Entscheidung also [lacht]! Solche Lebensentscheidungen habe ich glücklicherweise immer relativ gut erwischt. Glück oder Riecher, das weiß ich nicht.

Mit dem „Drumtalk“ wirst du weitermachen? 

Ja, das Ganze wird momentan immer größer. So lange mich die Leute hören wollen, mache ich weiter. Für mich ist das alles eine Art Start-up, in das man erst einmal investieren muss. Jetzt wachsen die Venues langsam, und die Sache entwickelt sich – es soll andererseits aber auch gemütlich bleiben. Auf einmal kommen jedenfalls auch Anfragen vom Fernsehen. Damit hätte ich auf gar keinen Fall gerechnet, und plötzlich wird meine Person wieder präsenter. Mal sehen, wo’s hingeht. 

Sich zur Ruhe zu setzen, das ist für dich kein Thema? 

Zur Ruhe setzen, was ist das? Ich kann halt sterben, aber ich fühle mich definitiv nicht wie 71. 

Biografie: 

Curt Cress, 1952 in Brachttal geboren, begann seine Karriere mit 13 Jahren als Drummer in Clubs. Wenig später folgte seine erste Band Orange Peel. 1973 stieg er bei Klaus Doldingers Jazzrockband Passport ein und tourte mit ihr zehn Jahre lang kreuz und quer um die Welt. Schon früh avancierte Cress zu einem der gefragtesten Live- und Studiodrummer weltweit. Freddie Mercury, Ike & Tina Turner, Meat Loaf, Peter Maffay, Rio Reiser, Saga, Rick Springfield, Scorpions, Spliff, Falco, BAP, Alphaville, Udo Jürgens, Peter Schilling, Münchener Freiheit, Milli Vanilli, Nena, Udo Lindenberg und unzählige mehr riefen bei ihm an. Als Musikproduzent wurde Cress nicht nur mit Uwe Ochsenknecht erfolgreich, sondern auch mit Falco, Nina Hagen, Nena, Udo Lindenberg und dem Royal Philharmonic Orchestra London. Als Musiker hat er über 12.000 Aufnahmen auf mehr als 400 Millionen verkauften Tonträgern eingespielt. Heute leitet Cress eine Firmengruppe für Musik und Medien. Als Musikverleger, Produzent, Plattenfirmenbetreiber sowie Fernseh- und Filmmusikkomponist ist er weiterhin eine der einflussreichsten Figuren der deutschen Musikszene. 

Curt Cress ist Endorser für DW, Remo, Zildjian und Rohema.
Curt Cress ist Endorser für DW, Remo, Zildjian und Rohema.

Diskografie (Auswahl):

  • Curt Cress Clan (1975), Avanti (1983), Sing (1987), Bäng (1992), Trip (1998)
  • Passport: Hand Made (1973), Looking Thru (1973), Passport – Cross-Collateral (1975), Iguacu (1977), Earthborn (1982), Running in Real Time (1985)
  • Doldinger: Jubilee Concert (1974)
  • Lucifer’s Friend: Mind Exploding (1976)
  • New Triumvirat: New Triumvirat Presents Pompeii (1977)
  • Snowball: Defroster (1978), Cold Heat (1979), Follow the White Line (1980)
  • Oktagon: Oktagon (1980)
  • Freddie Mercury: Mr. Bad Guy (1985)
  • Trio: What’s the Password (1985)
  • Saga: Wildest dreams (1987), The Beginner’s Guide To Throwing Shapes (1989)
  • Scorpions: Pure Instinct (1996) 
  • u.v.m.

Equipment: 

  • DW 
  • Remo
  • Zildjian
  • Rohema

Website: curtcress.com

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08.02.2023
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