Neve 88M Test

PRAXIS

Almost Perfect 

Manche Produktentwicklungen brauchen wohl einfach Zeit. Vor zehn Jahren gab es schon tolle und haptische „All-in-One“-Audio-Interfaces mit Preamps und Monitoring – doch die waren irgendwie oft zu viel zu umständlich und kompliziert gedacht – oder andererseits viel zu einfach. Anders gesagt: selten wirklich musikerfreundlich. 

Das hat sich in den letzten Jahren spürbar geändert, wie ich finde. Mittlerweile gibt es richtig gute Interfaces, die tatsächlich in den Mucker-Workflow passen und nicht nur lieblose Featurewünsche von Marketing-Men abfrühstücken. Da fällt beispielsweise auch das MOTU M4 oder gar das SSL 12 darunter.

Ganz klassisches und klares Layout – intuitiv zu bedienen und ohne Handbuch selbsterklärend.

Das Neve 88M passt für meine Geschmack besonders: Es liefert ein kompromissloses, wenn auch nicht besonders üppiges Paket, nur essentielle Monitoring-Features – und es kommt ganz ohne DSP-Brimborium, Software-Schnulli oder sonstig unnötige Gadgets auch.

Am iPhone funktioniert es nicht, und leider auch nicht richtig 100% stabil an der NI Maschine Plus, wo sie durchaus hervorragend beheimatet wäre. Ich probier nochmal einen anderen USB3-Hub, vieleicht wird`s besser!

That NEVE Sound

Der Mic-Preamp hat einen Sound keine Frage, allerdings ist der in keinster Weise aufdringlich und lässt dank seiner Power Mikros richtig schön aufatmen und dadurch ihren Charakter mehr zum Vorschein bringen – dreht man den Gain höchstmöglich auf, gibt es ordentlich Neve-Sound! Überraschend spät clippt dann auch erst der D/A – lecker!

Audio Samples
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Acoustic – Stereo SM57/utFET47 Acoustic – Mono utFET47 Acoustic – Mono SM57 Bass – High Gain Bass – Low Gain Bass – slightly clipped

Ganz ehrlich: Mehr als einen Neve-Preamp braucht es nicht, um tolle Aufnahmen zu machen, denn sie sind nun mal immer durchsetzungsfähig und somit ziemlich mix-ready. Die Diskussion darüber, ob man nun analoges Outboard braucht oder Plugins genügen, erübrigt sich dann auch, weil die Quelle entsprechenden hochwertig-analogen Charakter mitbringt  – und nicht etwa nur tolle Kennzahlen eines sterilen Messgerätes. 

Neve 88M Marinair
Der Übertrager sitzt vor dem Send – über den Return kann man ihn also auch für Line-Anwendungen umgehen.

Und damit meine ich „echten Charakter“. UA, SSL, Steinberg, Focusrite oder andere Hersteller spielen zwar hier und da mit 4k, AIR oder Vintage-Modes – richtig ernst nehmen kann ich das allerdings nicht.

Und mir fällt auch wieder das Steinberg Interface mit den „Rupert Neve“ Übertragern ein, äußerst unnötig und homöopathisch. Auch der Kopfhörer-Ausgang ist hier auf einen anderen Level und schmeichelt hochwertigen Ohrmuschel-Exemplaren besonders.

Für Klassikaufnahmen ist das hier vielleicht nicht unbedingt die erste bzw. transparenteste Wahl, aber welcher Home-Recorder macht das schon? Gitarren, Vocals, Synths und Keys – alle freuen sich richtig über den Neve-Sound. Bei einem Einzelsignal mag das noch gar nicht so auffallen, wenn aber man viele Spuren dubbed, ist die Endqualität definitiv „besser“ und die Griffigkeit eben deutlich schneller zu erreichen.

Und ich wurde auch noch kreativ: wenn man den Main-Out wieder in die Preamps zurück führt, kann man mit dem Monitor-Regler auf dem HP-Out die Übertrager dann sozusagen parallel hinzufahren, denn in den Ausgängen sind grundsätzlich keine Übertrager vorhanden. Wer also den durchsetzungsfähigsten Laptop-Sound haben möchte: bitte schön! Das ganz funktioniert auch symmetrisch über die Sends, dann halt nur nicht Parallel sondern vollständig über die Übertrager. 

Wo Licht, da Schatten

Bevor wir über „fehlende Features“ sinnieren, könnten wir zunächst mal ein Auge auf den Preis werfen. 1299,- Euro sind schon eine stolze Summe für ein 2-In/2-Out Interfaces, auch wenn es ADAT hat. 

Dennoch: Eine 88er-Preamp im API-500er-Format kostet allein 780 Euro, zwei Stück folglich knapp 1,5 k. Diese haben Extras wie ein variables Trittschaltfilter, Pad, Groundlift und Front-IO am Start und auch nochmal 2 dB mehr Gain. 

Neve 88M USB-C Power
Think Out of the Box: der Neve funktioniert auch nur mit USB-Strom

So gesehen ist das hier irgendwie auch eine coole Dual-Mono-Lunchbox mit USB-Netzteil. Nett wäre deswegen ein AES/EBU gewesen und nicht nur einfaches ADAT ohne Clock I/O. Ein einziger HP-Out und nur ein gemeinsamer Wandler sowie identischen Monitoring-Mixe für Main und HP sind ebenfalls echt mau. Aber nichts davon ist ehrlich gesagt ein Deal-Breaker – zur Not pfeffert auch der Main-Out genügen Dampf für ein zweites Paar Kannen raus. 

Für Solo-Artists sicherlich ohnehin vollkommen egal, doch denke ich hierbei besonders an Engineers, die gern und ausschließlich Vocals tracken. Die sehen das wahrscheinlich anders und hätten dafür bestimmt sogar auf einen Preamp verzichtet. Wer weiß, vielleicht war auch der USB-3 Strom das Limit – man bedenke: Es gibt keinen Netzteilanschluss.

Die Big Boy Variante wäre dann der 1073 DPX/SPX mit “veralteter” Option auf AES-Wandler und FW- Anschluss oder gar gleich der “omnipotente” 1073OPX mit seiner Digital Dante Option, welcher dann aber auch schon gleich mal 5450 Öcken kostet.

Fotostrecke: 7 Bilder Latenz laut Ableton: 8,59 ms bei 44,1kHz und 32 Samples

Sind wir hier bei “Wünsch dir was” ?!

Reden wir also lieber weiter über das “bescheidene” USB-Interface Neve 88M: Fett wäre gewesen, dem Insert-Return eigene A/Ds zu verpassen, sozusagen als alternativer Stereo-Input. So hätte man zusätzlich zu den Stereo-Returns vom Outbaord das „cleane“ Signal mitnehmen können.

Ein Blend-Regler für Direct und DAW-Signal wäre ebenfalls Zucker gewesen. Getrennte Mixe bzw. Wandler für Main und HP sowieso. Dedizierte Mac Treiber, die die Latenz – wie beispielsweise bei MOTU – gegenüber dem CC-Mode halbieren könnten, wären sicherlich ebenfalls gut angekommen.

Neve 88M – Alternativen

Nimmt man die Preamps als Grundlage für einen Vergleich, dann gibt es keine Alternativen zum 88M – außer von Neve selbst, mit dem 1073OPX, der allerdings in einer ganz anderen Liga unterwegs ist und durchaus anders bzw. starker färbt.

Nimmt man die Anzahl der I/Os als Grundlage, dann gibt es jede Menge Alternativen. Beispielsweise haben auch das Focusrite Clarett und das SSL 12 ADAT – wenn allerdings auch nur eingangs-seitig. Das MOTU M6 ist ebenfalls interessant, schnörkellos und sogar mit vier Preamps ausgestattet.

Neve 88MSSL 12UA VOLT 476PFocusrite Clarett+ 4Pre MOTU M6
Preamps/max. Gain2 x 68 db Gain4 x 62 dB Gain4 x 55 db Gain4x 57 dB gain4x 60 dB
ÜbertragerJa (Marinair)NeinNeinNeinNein
Analoger InsertJaNeinNeinNeinNein
Kopfhörer-Outs1x2x2x2x2x
Low-Latency-Monitoringsehr einfachSoftware-Mixersehr einfachSoftware-Mixersehr gut
ADATIn/Outnur Inkein ADATnur Inkein ADAT
MIDINein1 DIN-I/O1 DIN-I/O1 DIN-I/O1 DIN-I/O
Input EIN (A-gew.)-125 dBA– 130,5 dBu– 127 dBu– 129 dBu– 129 dBu
Preis:1199.- €499,- €449,- €545,- €499,- €
Thomann:Neve 88MSSL 12Volt 476PClarett+ 4PreMOTU M6

Das Volt von UA könnte eventuell noch interessieren, hat aber mit Abstand die schwächsten Preamps sowie ein recht ähnlich rudimentäres Direct-Monitoring. Mein Test des Volt 476P hat ferner gezeigt, dass sein „analoger 76-Kompressor-Sound“ nicht besser als ein Plugin ist. Von der Optik will ich gar nicht sprechen. Für mich ist das ein klare Sache: Neve 88M, SSL 12 und MOTU M6 – such’s dir aus!

Neve 88M Rückseite
Inserts an einem kompakten Audiointerface – das ich das noch erleben darf!


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Heimaufnahme sagt:

#1 - 19.03.2023 um 10:51 Uhr

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"Für Klassikaufnahmen ist das hier vielleicht nicht unbedingt die erste bzw. transparenteste Wahl" Finde ich eine schwierige Bemerkung, denn natürlich wurden in der Vergangenheit Klassikaufnahmen auf Neve-Pulten gemacht, sogar auf 1073ern. Aber natürlich werden auf dem Neve88RS-Pulten in den Abbey-Road-Studios, woher diese Preamps ja kommen, ständig Orchesteraufnahmen, insbesondere für Filmmusik gemacht.

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