Seit 35 Jahren spielt „DJ Wuthe am Grammophon“ Musik von sehr alten Platten, selten vom Grammophon, aber immer aus Schellack. Er nennt seine Musik „Swingtime“, denn der Begriff „Swing“ kann mittlerweile auch sehr missverständlich sein, wie er zwinkernd einräumt. Er ist Experte für historische Plattenkultur und nimmt sein Publikum mit seinen DJ-Sets auf eine Reise zurück in die Zeit, ganz ohne Beatmatching, aber mit faszinierenden Aufnahmen, die vor bis zu 100 Jahre entstanden sind. Bonedo-Autor Mijk van Dijk hat ihn u.a. nach der Technik gefragt, die dazu nötig ist.
Schellack
Von der Jahrhundertwende bis noch in die fünfziger Jahre wurden Schallplatten aus Bariumsulfat, Schiefermehl, Ruß und Baumwollflock gefertigt, die von Schellack als Bindemittel zusammengehalten wurden. Schellack, der Namensgeber dieses Materials, ist eine harzige Substanz, die aus den Ausscheidungen der Lackschildlaus gewonnen wird. Schellackplatten hatten meistens einen Durchmesser von zehn Zoll (etwa 25 Zentimeter), drehten sich mit 78 Umdrehungen pro Minute und boten eine Spielzeit von etwas mehr als drei Minuten pro Seite.
DJ Wuthe ist fasziniert von dem Medium, der Zeit und natürlich der Musik. In seinem DJ-Zimmer sind Tausende Schellack-Scheiben aus mehreren Jahrzehnten gestapelt, auch sehr viele aus deutscher Produktion.
„Berlin hatte in den zwanziger Jahren die weltweit größte Schallplattenindustrie. Etwa 60 – 70 % der weltweiten Schallplattenproduktion wurde in Berlin und Hannover hergestellt.“
Mit großer Leidenschaft berichtet Wuthe, wie und wo er seine vielen Scheiben gefunden hat. So ist er beispielsweise im Besitz der Schellackplattensammlung des großen deutschen Malers Otto Dix. Und er weiß, welche Platten mit welcher Technik abgespielt werden müssen, damit sie ihre auch nach 100 Jahren noch vorhandene verblüffende Klangfülle entfalten können.
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Die Platten
„Eine Schellackplatte fühlt sich immer kalt an, denn sie besteht zum großen Teil aus Gesteinsmehl und Schellack dient primär als Bindemittel. Diese Mischung ergibt ein extrem sprödes Material, das leicht bricht. Wenn da ein Kratzer drin ist, fällt das Material als Staub aus der Rille raus.
Wenn ein Kratzer aber nicht tiefer ist als die Rille, dann hört man den Kratzer auch nicht. Im Gegensatz dazu besteht Vinyl aus weichem PVC, wo Schrammen in der Platte dazu führen, dass sie knackt oder die Nadel hüpft, weil das Material ja nicht verloren ging, sondern nur deformiert wurde.“
Die Plattenspieler
„Ich nutze beim Auflegen zwei alte Dual 1219 Schallplattenspieler mit Direktantrieb von 1970, die ich in ein Flightcase eingebaut habe. Der Dual hat drei Geschwindigkeiten (33, 45, 78 Umdrehungen). Schellackplatten werden alle auf 78 U/min abgespielt. Die Dual haben keine Start/Stopp-Taster, wie man das heute von DJ-Turntables kennt, sondern eine Endabschaltung und Anschaltautomatik. Eine Automatik, die 20 Sekunden braucht, um den Tonarm zu heben, zu bewegen und wieder abzusetzen, kann aber kein DJ brauchen, das ist alles verlorene Zeit.
Deshalb habe ich den Aluminiumdorn, der die Automatik auslöst, mit einem Seitenschneider einfach abgeknipst. Jetzt kann ich beide Plattenspieler manuell starten und stoppen oder auf Dauerbetrieb laufen lassen und das tun sie nun auch schon seit 1989 ununterbrochen, ich weiß nicht wie viele Zigtausend Stunden und sind immer noch nicht kaputt.“
„Weiterhin habe ich bei meinen Dual DJ-Plattenspielern hinten die DIN-Buchse gegen Cinch-Buchsen ausgetauscht und bei den Lötstellen immer den linken oberen und unteren Kanal kurzgeschlossen, um meine Schellackplatten in Mono abzuspielen.
Zuhause benutze ich zum Hören und Digitalisieren einen moderneren Turntable, einen Reloop RP-6000 MK6 LTD. Hier habe ich in die Ausgangsbuchsen Y-Adapter eingesteckt, so dass beide Kanäle mono wiedergegeben werden. Sonst rauscht es in Stereo, während die Musik in Mono spielt.“
Die Systeme
„Ich nutze Shure-Systeme aus den 70er-Jahren, die klingen für mein Empfinden satter als andere Systeme und bieten eine sehr schöne Entzerrung bei Schellackaufnahmen. Leider sind die Dual 1219 etwas schwierig, weil kompatibel mit gar nichts.
Dual hat keinen SME-Tonarm, sondern ein eigenes Konzept mit einem merkwürdigen Bajonettverschluss. Deshalb habe ich mir auch angewöhnt, die Systeme nicht zu wechseln und wechsle nur die speziellen Nadeln zum Abspielen von Schellackplatten.“
Die Nadeln
„Für Schellackplatten braucht man eine dicke Nadel, die schön die seitlichen Flanken der Rille abtastet und nicht unten auf den Grund der Rille langkratzt und eigentlich nur den Dreck und Staub der Jahrzehnte rauskratzt. Das zischt dann nur und klingt ganz schauderhaft. Ich benötige also verschiedene Nadeln mit bis hin zu 120µ Verrundung.
Die Pressungen waren damals nicht genormt: Jede Firma hatte ihre eigenen Materialien und Rillenstärken. Während eine Electrola-Schallplatte von 1930 mit einer 90µ-Nadel ganz toll klingt, klingt eine Telefunken-Platte von 1940 mit der gleichen Nadel überhaupt nicht gut und man braucht eine 70µ-Nadel zum Abspielen.
Platten der 20er- und 30er-Jahre benötigen viel dickere Nadeln mit bis zu 120µ Verrundung. Platten der 50er-Jahre wiederum klingen mit 65µ Verrundung am besten. Es gilt also, stets die richtige Verrundung zu finden.
Daher schmeiße ich auch keine Nadeln weg, denn manchmal braucht es eine verdrehte, abgespielte Nadel und auf einmal klingt eine Platte, die mit anderen Nadeln nur pfeift und zischt, so wie ladenneu.
In meinen Sets wechsle ich die Nadeln jedoch nicht. Aber wenn ich etwas digitalisiere, dann probiere ich alle vorhandenen Nadeln aus, um den besten Klang zu finden. Für den Anfang kann man jedoch sagen: Eine 80µ-Nadel ist eigentlich mit den meisten alten Schelllackplatten kompatibel.“
Tiefenschrift und Seitenschrift
„Eine weitere Spezialität sind Schellackplatten, in die mit „Tiefenschrift“ gepresst wurde. Dieses sehr frühe Verfahren hatte Thomas Edison ganz zu Beginn der Schallplattenära abgeleitet von der Phonographentechnik erfunden. Das muss man sich wie eine Berg- und Talfahrt des Tonabnehmers vorstellen. Die Information in der Rille wird von oben nach unten abgetastet, nicht rechts und links wie bei der von Emil Berliner entwickelten sogenannten „Seitenschrift“.
Die Pariser Firma Pathé hat ihre Platten lange mit der Tiefenschrift-Technik geschnitten und diese beiden Standards haben lange parallel existiert. In den späten 20er-Jahren wurden von Pathé Aufnahmen in beiden Varianten veröffentlicht und es gab Grammophone, bei denen man die Schalldose von einer seitlichen Stellung um 90 Grad auf eine Querstellung umdrehen konnte, damit man beide Plattenschnittstandards hören konnte.
Möchte man diese „Edison-Platten“ heutzutage auf modernen Plattenspieler hören, muss man den rechten und linken Kanal über Kreuz kurzschließen. Ich habe dann rechts oben mit links unten und links oben mit rechts unten über Kreuz und dann höre ich Musik. Ansonsten höre ich gar nichts. Ich habe aber nur ganz wenige Platten aus der ersten Hälfte der 20er mit diesem Schnitt.“