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Die Hertiecaster Story: Die Geburt der Billig E-Gitarre

‘Hertiecaster’ ist der Name für die inzwischen legendär gewordenen  Kaufhausgitarren der 60er und 70er Jahre: Die ersten Budget-Gitarren für ganz kleines Geld aus Japan. Durch den allgemeinen Vintage-Wahn unserer Zunft tauchen sie unter verschiedenen Namen natürlich immer wieder auf dem Gebrauchtmarkt auf. Obwohl die Verkäufer das manchmal behaupten, hat das Gebotene mit der heutigen “Made in Japan” Qualität allerdings eher weniger zu tun. Trotzdem haben diese Instrumente ihren Reiz! Also Vorhang auf für einen exotischen Klassiker der etwas anderen Art – inklusive Anspielbericht und Audiobeispielen. 

(Foto: © bernie49/M-board)
(Foto: © bernie49/M-board)


Fast alle Jugendlichen waren damals von der Beatmusik infiziert, und viele wollten in einer der wie Pilze aus dem Boden schießenden Bands spielen. Wenn man nicht zufällig Kind wohlhabender Eltern war, gab es aber nicht allzu viele Möglichkeiten, an ein hochwertiges Instrument zu kommen: die ersehnten Originale aus den USA waren fast unerschwinglich teuer. Falls dann aber doch irgendwie der Weihnachtswunsch nach einer E-Gitarre erfüllt wurde, war es zumeist eine Kaufhausgitarre: Nur wenige Eltern glaubten an eine dauerhafte musische Neigung ihrer Sprösslinge und wollten nicht 300-500 DM für etwas riskieren, das womöglich schon nach Silvester ungenutzt in der Ecke vergammelte (immerhin betrug das durchschnittliche Monatskommen 1963 in Deutschland nur ca. 650 DM). Wenn dann der Mitschüler aus reichem Hause damit angab, dass er eine ‘Stratocaster’ bekommen hatte, lag der scherzhafte Name ‘Hertiecaster’ für die Billiggitarre aus dem Kaufhaus quasi fast in der Luft. Offiziell hat es diese Bezeichnung natürlich nie gegeben und sie fand den Weg in den allgemeinen Sprachgebrauch auch erst, als ihre Zeit längst vorbei war.

Die legendäre Kaufhausgitarre in der Variante mit zwei Pickups.
Die legendäre Kaufhausgitarre in der Variante mit zwei Pickups.
Es fing alles mit der ‘British Invasion’ an, allen voran die Beatlemania: Sie sorgte auf dem europäischen Gitarrenmarkt für einen unerwarteten Boom, den die vorhandenen Hersteller kaum befriedigen konnten. In England, dem Heimatland des Beat, waren die Preisbrecher im Billigsegment holländische Egmond-Gitarren oder Futurama-Gitarren aus dem heutigen Tschechien. Im Segment darüber lagen deutsche Höfner (dort Hofner) Gitarren und italienische Ekos, was die schmalen Geldbeutel der Musiker in Liverpools Arbeitervierteln aber oft schon überforderte. Als die Begeisterungswelle langsam über den Kanal auf das europäische Festland schwappte, zog auch hier die erhöhte Nachfrage den Gesetzen der Marktwirtschaft folgend eine langsame, aber stetige Verteuerung der Gitarren nach sich. Günstige E-Gitarren waren plötzlich gefragter denn je. Das obere Marktsegment beherrschten amerikanische Marken, die aber für die meisten Jugendlichen im Deutschland der 60er Jahre ohnehin unerschwinglich waren.
Auch in den Vereinigten Staaten war der Beat inzwischen angekommen und ließ die Nachfrage an erschwinglichen E-Gitarren drastisch ansteigen. In den USA hatte man bis zu diesem Boom keine nennenswerten Importe an Gitarren benötigt. Man bediente den Markt weitgehend selbst: Auch in den Versandhauskatalogen der frühen Sechziger kam noch alles aus heimischen Landen. Nun nutzten amerikanische Importeure wie Jack Westheimer ihre bereits bestehenden Handelsbeziehungen zu japanischen Instrumentenherstellern: Zuerst waren es nur Bongos, bald folgten aber auch erste günstige Gitarren. Die ersten Lieferungen waren noch nicht wirklich gut und verzogen sich in beheiztem Wohnklima bis zur Unbrauchbarkeit. Westheimer musste seine japanischen Herstellern erst überzeugen, Dinge wie einen Halsspannstab einzubauen. Nach diesen Erfahrungen ließ er auch alle Instrumente zunächst einem dreitägigen Klimatest unterziehen. Die Gitarren zielten bewusst auf die Einsteigerklasse, und dementsprechend einfach waren sie auch meist ausgestattet.
Die ersten Qualitätsmängel hatten sich schnell herumgesprochen und so bekamen japanische Waren das Billig-Image, das sie noch Jahrzehnte behalten sollten. Selbst als die Asiaten längst Waren anbieten konnten, die westlichen Produkten ebenbürtig waren. Deshalb ließen sich diese Gitarren nicht mit japanisch klingenden Namen vermarkten – es entstanden erste Handelsmarken, die möglichst ”wertig” und englisch klingen sollten – wie z.B. ‘Kingston‘. Welche Firma sie hergestellt hatte, ließ sich aber nicht zwangsläufig daran ablesen. Als diese japanischen Billiggitarren mit der Zeit bei gleichbleibend niedrigem Preis qualitativ aufholten, verdrängten sie die amerikanischen Produkte im unteren Preissegment weitestgehend vom Markt und beherrschten diesen bis Ende der 70er Jahre fast völlig.
Die Budgetgitarre der Beat-Generation in Aktion! (Fotos: bernie49)
Die Budgetgitarre der Beat-Generation in Aktion! (Fotos: bernie49)
Wie die Gitarren aus Japan ins deutsche Kaufhaus kamen
Die steigenden Nachfrage veranlasste auch europäische Importeure, nach neuen Lieferanten für den Niedrigpreismarkt bei E-Gitarren und Bässen zu suchen. Die deutschen Hersteller wollten zunächst ein gewisses Mindestniveau für ihre Instrumente nicht unterschreiten. Daher konnten sie nicht die Forderung erfüllen, eine halbwegs ordentlich ausgestattete E-Gitarre herzustellen, die sich im Laden im 100-DM-Bereich anbieten ließ. Das wäre bestenfalls bei sehr großen Stückzahlen möglich gewesen, aber für eine derartige Massenproduktion waren die Produktionsstätten nicht ausgelegt. 
Diese Situation war optimal für Japan, das bereits durch die zuvor mit den USA etablierten Handelsbeziehungen und den dort absetzbaren großen Stückzahlen optimale Voraussetzungen mitbrachte. Entsprechende Produktionstrassen waren bereits in Betrieb und man konnte aufgrund dortiger Niedriglöhne trotz hoher Transportkosten große Stückzahlen zu Dumpingpreisen anbieten. Die geforderten Stückzahlen waren auch die entscheidende Hürde, weshalb nur Kaufhausketten oder Versandhäuser in Frage kamen, denn Musikgeschäfte hatten damals kaum Lagerkapazität und deshalb immer nur sehr wenige Modelle des gleichen Typs im Verkauf. Deshalb bekam man diese japanischen Billiggitarren in Musikgeschäften erst zu sehen, als es auch in Europa erste Firmen gab, die den Import zentral für die Geschäfte abwickelten (die offizielle Begründung war anfangs natürlich, dass man ‘so einen Schund’ nicht guten Gewissens verkaufen könne). 

Kaufhausketten wie Hertie mit weit über 100 Filialen konnten das schon. Sie konnten sogar bestimmen, ob ein Name auf der Kopfplatte stehen sollte und wenn ja, welcher. Den Japanern war das völlig egal: Sie bauten in ihren ‘Assembling Halls’ nur die Hälse aus der einen Kiste an die Bodies aus der anderen Kiste – und der einzige Hinweis auf die Herkunft war später meistens nur das ‘Made in Japan’ auf der Halsplatte. So kam es auch, dass es identische Gitarren mit unterschiedlichen Namen gab – oder gleiche Modelle mit unterschiedlichen Kopfplatten oder Saitenhaltern.

Das Indiz für die Herkunft: Made in Japan!
Das Indiz für die Herkunft: Made in Japan!

Da das Design der ersten japanischen E-Gitarren noch überwiegend auf der Absicht basierte, die Optik westlicher Modelle möglichst ähnlich zu kopieren, orientierte man sich beim Entwurf des späteren Standardmodells an den Verkaufszahlen im europäischen Inlandsmarkt, wo Modelle wie die Höfner 173 oder die Framus Strato die oberen Ränge auf den Wunschlisten der Jugendlichen belegten, wenngleich die Wünsche auch oft Opfer der vergleichsweise hohen Preise wurden. Möglicherweise gab auch die Strato die entscheidende Anregung, die dazu führte, das Standardmodell in Abhängigkeit vom Preis mit einer unterschiedlichen Anzahl Tonabnehmer auszustatten – denn das gab es bei der Strato auch. Das legte den Schluss nahe, dass das wertvollste und wichtigste an der Gitarre wohl der Tonabnehmer sein musste. Deshalb spendierte man dem Flaggschiff gleich vier Pickups (das war ja sogar noch einer mehr als bei der Stratocaster oder Lennons Rickenbacker 325).

Optisch wie Brüder: Höfner 173 und die Hertiecaster mit 4 Pickups - mehr ist einfach mehr!
Optisch wie Brüder: Höfner 173 und die Hertiecaster mit 4 Pickups – mehr ist einfach mehr!
Anders als amerikanische Importeure hatten hiesige Kaufhäuser nicht das wirtschaftliche Ziel, Musikinstrumente als eigene Marken zu etablieren, weshalb es auf den ”echten” Hertiecastern meistens gar keinen Namen gab. Andere Abnehmer ließen entweder irgendwelche Phantasienamen aufdrucken oder klebten selbst Schilder auf, weshalb es bei der identisch aussehenden Gitarre Namensvarianten ohne Zahl gab.

Oft waren die Hertiecaster eher schwer zu spielen, weil die Saitenlage häufig ebenso unbefriedigend war wie die Funktion des Tremolos oder der Klang. Da sie aber während der Beat-Ära über den unschlagbaren Preis den Weg in Hände Tausender Jugendlicher fanden, wurden sie ein Stück Musikgeschichte, an das sich heute noch manch einer gerne erinnert.
Dieser Artikel entstand übrigens aus einem Thread, den ich auf dem musiker-board.de gestartet hatte. Vielen Dank an die Community für Foto-Support – vor allem auch an bernie49, von dem die Livebilder aus der damaligen Zeit stammen!
Auf den folgenden Seiten gibt es Details und einen Spielbericht zu diesen Budget-Exoten…

Foto: Danke an Bernie49 für die Original-Einsatzbilder!
Foto: Danke an Bernie49 für die Original-Einsatzbilder!
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Details

Im Folgenden zeigen wir Euch die Erkennungsmerkmale und Features dieser “Underdog-Legende”: Es gibt mehrere Modellvarianten mit unterschiedlicher Ausstattung. Solltet ihr euch für so ein Instrument interessieren, denkt bitte daran, dass es bei diesen Budgetgitarren natürlich Qualitätsstreuungen geben kann und wird: Nur weil sie noch gut aussehen, müssen die 40 Jahre alten Sperrholzplatten mit Pickup nicht mehr gut bespielbar sein. Auch wenn das finanzielle Risiko nicht so groß ist, also möglichst anchecken. Das absolute Einsteiger-Modell mit nur einem einzigen Tonabnehmer gab es damals bereits für unter 100DM, die in diesem Special auch getestete Komfortversion mit zwei Tonbabnehmern und Tremolo kostete 1973 bei Hertie 128,- DM, wie die hier abgebildete Originalquittung für so ein Modell beweist.
Nur 128 Deutsche Mark kostete dieses Modell 1973 bei Hertie! (Fotos: Uli)
Nur 128 Deutsche Mark kostete dieses Modell 1973 bei Hertie! (Fotos: Uli)

In unserer Fotostrecke zur Hertiecaster gibt es noch mehr Bilder! 
Ohne Hardware sahen die Gitarren unter dem Pickguard praktisch identisch aus, denn oft war auch bei den 1-, 2- oder 3-Pickup Modellen im Korpus die Fräsung für 4 Tonabnehmer vorhanden. Hier die vier Modelle der amerikanischen Handelsmarke ‘Heit’.

(Foto: Aus dem Katalog der amerikanischen Handelsmarke Heit)
(Foto: Aus dem Katalog der amerikanischen Handelsmarke Heit)

Wie der größte Teil der als ‘No Name’ in den europäischen Kaufhäusern angebotenen Budget-Gitarren wurden auch diese Hertie-Gitarren bei Teisco gefertigt, einem japanischen Hersteller, der zwar schon seit den 40er Jahren bestand, unter dem Namen Teisco aber erst seit 1964. Als die Firma später von Kawai übernommen wurde, wurde die Gitarrenproduktion unverändert weitergeführt. Auch die Tradition, Gitarren mit jedem vom Kunden gewünschten Namen zu versehen, so lange die bestellte Stückzahl groß genug war, behielt man bei.

Sowohl bei den westlichen Herstellern als auch bei den Musikgeschäften war man zunächst sehr skeptisch, ob sich für die angebotenen Preise ernsthaft spielbare Gitarren herstellen ließen. Eigenschaften, die hierzulande längst selbstverständlich waren, wie z.B. ein Halsspannstab, wurden dort oft als Besonderheit beworben. Interessant ist auch, dass die Japaner den Stahlstab anfangs offenbar als reine Verstärkung des hölzernen Gitarrenhalses verstanden und in dem Zusammenhang berichtet wird, dass in den ersten Serien tatsächlich lediglich Stahlstangen in der Halsnut lagen, um den Hals zu verstärken. Erst später soll sich die Erkenntnis durchgesetzt haben, dass man mit einer doppelten Gewindestange die Halskrümmung einstellen konnte und der irgendwo an der Kopfplatte untergebrachte Hinweis wurde von ‘steel reinforced neck’ (Stahl verstärkter Hals) um das groß geschriebene Wort ‘adjustable’ (einstellbar) ergänzt. Gegenüber den europäischen Fabrikaten wiesen die japanischen Billiggitarren durchaus Qualitätsunterschiede auf, die im direkten Vergleich sichtbar wurden. Aber auch innerhalb der verschiedenen Modelle, die man zur Gruppe der Hertiecaster zählen muss, gab es zum Teil erhebliche Unterschiede – die teilweise darüber entschieden, ob man eine spielbare Gitarre oder ein Dekorationsstück in den Händen hielt. 
Qualitätsupgrade: Halsstab einstellbar...
Qualitätsupgrade: Halsstab einstellbar…

Korpus

Meistens aus Sperrholz (dann oft auch mit Boden- und Deckenfurnier), gelegentlich aber auch aus einfachen Hölzern wie Erle bzw. ihren asiatischen Verwandten. Die Sunburst-Lackierung mit ihrem schwarzen Rand war die ideale Tarnung, damit am Außenrand nicht die einzelnen Schichten des Sperrholzes zu sehen waren. Deshalb ist diese Lackierung wahrscheinlich etwas in Verruf geraten, auch heute noch stellt sie selbst bei Markengitarren die Assoziation zur Hertiecaster her.
Manche Modelle wurden wohl auch in deckender Uni-Lackierung geliefert, was aber eher die Ausnahme war.
Die vorherrschende Korpusform war irgendwo in der Nähe der Stratocaster angesiedelt, bei den in die USA exportierten Modellen auch oft mit einer Rundungsvariante am unteren Gurtpin, um mögliche Copyright-Probleme schon im Vorfeld zu vermeiden. Seltener gab es Modellvarianten, die an die Fender Jaguar angelehnt waren, wie es Framus schon mit den Strato-Modellen vorgemacht hatte.

Der Blick ins Innere verrät es: Sperrholz!
Der Blick ins Innere verrät es: Sperrholz!
Andere Farben waren selten - bei USA-Modellen wurde die Form leicht variiert. (Katalogbild)
Andere Farben waren selten – bei USA-Modellen wurde die Form leicht variiert. (Katalogbild)

Hals

Bei den Hälsen war man in Bezug auf die Holzsorte nicht wählerisch, so lange es ein Hartholz war, stellte aber bald fest, dass sich in Abhängigkeit von Sorte, Lage innerhalb des Stammes und Trocknungszustand oft Verwindungen einstellten, die sich auch nicht ohne weiteres mit einem Halsspannstab beseitigen ließen. 

Deshalb wurde bei vielen Modellen die Technik kopiert, dünne Hartholzplatten zu Leimholz zu verpressen und daraus dann die Rohlinge für die Hälse zu schneiden, wie das auch bei Framus gängige Praxis war. Ob man dabei aber bereits zu Anfang auch die Technik der verzugskompensierenden Verleimung tatsächlich schon verinnerlicht hatte, darf angesichts etlicher verdrehter Gitarrenhälse in späteren Jahren bezweifelt werden.

Ein Hals aus Schichtholz.
Ein Hals aus Schichtholz.

Die Einstellung des Spannstabes erfolgte am Halsfuß mittels einer Lochmutter, was hinsichtlich der Bespielbarkeit nicht immer von Erfolg gekrönt war. Dafür war es aber überaus praktisch, da die Justage ohne Demontage und Spezialwerkzeug möglich, weshalb die Technik bei einigen Herstellern bis heute überlebt hat.

Halseinstellung unten am Hals!
Halseinstellung unten am Hals!

Kopfplatte

Sie war fast immer Fender-ähnlich und hatte bei der klassischen Hertiecaster einen verchromten Stahlbügel als Saitenniederhalter, der rückseitig verschraubt war. An der Stelle des Trussrod-Covers klebte oft nur das bereits erwähnte ähnlich geformte Schild, das auf die Verwendung eines einstellbaren Spannstabes hinwies, der aber vom anderen Halsende aus zugänglich war.

Die Hertiecaster Kopfplatte.
Die Hertiecaster Kopfplatte.

Mechaniken

Während bei den ersten Modellen meistens Einzelmechaniken verbaut wurden, wichen diese aus Kostengründen bald einem 6er Riegel, bei dem der Austausch eines einzelnen Tuners natürlich nicht mehr möglich war. Die Plastikflügel waren oft dem schnell schwergängigen Getriebe der einzelnen Tuner nicht mehr gewachsen, drehten durch oder brachen …das war die Stunde der Kombizange und damit das Ende des Vierkants. Diesen Effekt kannte man übrigens durchaus auch von den einfacheren europäischen Gitarren, wo man später deshalb dazu überging, geschraubte und damit auswechselbare Drehflügel zu verwenden.

Sechs auf einen Streich: Die Mechaniken.
Sechs auf einen Streich: Die Mechaniken.

Brücke und Tremolo

Die Brückenkonstruktionen waren bei Kaufhausgitarren durchaus unterschiedlich, von der Einfachst-Stahlstange bis hin zur Rollenbrücke war alles vertreten – auch wenn letztere natürlich entsprechend des Preises keine feinmechanischen Wunderwerke waren und die Rollen oft sogar nur vorgetäuscht wurden, aber nicht tatsächlich drehbar waren.
Bei den allermeisten Modellen war der Tremolohebel eher Dekoration, da sich bei seiner Benutzung fast immer die Gitarre verstimmte. Das lag an der Schlichtheit der Konstruktion, die darin bestand, dass man den Saitenhalter mit einer Drehachse an ein Unterteil genietet hatte und diese Konstruktion durch eine Bigsby-ähnliche Feder in eine allerdings ziemlich undefinierte Ruhestellung zurückholte. 
Unterschiedliche Brückenkonstruktionen.
Unterschiedliche Brückenkonstruktionen.

Die Drehachse war ein einfacher Stahlstift, der sich aber in seinen Lagerbohrungen hin und her bewegen ließ, was zu zusätzlichen Unterschieden im Dehnfaktor der Saiten führte, wodurch dieses Tremolo nur zur optischen Aufwertung dienen konnte, sofern kein findiger Bastler Hand anlegte.

Simpeldrehachse am Tremolo.
Simpeldrehachse am Tremolo.

Elektrik

Die Schaltung der Hertiecaster war so ausgelegt, dass sie sich ohne nennenswerte Änderungen bei allen vier Modellen einsetzen ließ. Lediglich das einfachste Modell hatte keine Schalter, sondern nur den Klang-Kondensator sowie Tone- und Volumeregler.
Ab dem Modell mit zwei Pickups erhielt jeder Tonabnehmer (auch der erste!) einen eigenen Schiebeschalter. Bei einigen konnte über einen weiteren Schalter ein zusätzlicher Klangkondensator zugeschaltet werden. 
Eine ähnliche Schaltung ordnete jeweils zwei Pickups einen Tonregler zu, weshalb diese Ausführung dann drei Potis hatte, dafür aber keinen zusätzlichen Tone-Switch.
Die Schaltung der Gitarre: fast immer gleich.
Die Schaltung der Gitarre: fast immer gleich.
Als kleine Design-Spielerei wurde dann auch mal ganz im Strat-Stil einer der Pickups schräg gestellt oder es wurden die kleinen Schiebeschalter schräg angebracht, die in den meisten Fällen weiß waren, damit sie zum einen mehr auffielen und zum anderen den Höfner Vorbildern ähnlicher sahen, wo man diese Schalter schon seit den 50er Jahren einsetzte.

Tonabnehmer

Während die von Westheimer in die USA importierten frühen Modelle oft noch mit einer Variante des ‘gold foil’ Tonabnehmers ausgerüstet waren, setzte sich sehr bald aus Kostengründen ein Standardmodell durch, das möglicherweise auch von Framus inspiriert war, indem es einen weißen Spulenkörper verwendete, der in einigen Fällen auch aus Porzellan war.
Er hatte eine relativ geringe Ausgangsspannung und in einigen Fällen eine hohe Brummneigung, weil auch praktisch keinerlei Abschirmung in der Gitarre stattfand, wurde aber zumindest optisch unverändert bis weit in die 70er Jahre verbaut.

Erst Goldfolie (oben) - später eine günstigere Standardvariante.
Erst Goldfolie (oben) – später eine günstigere Standardvariante.
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Bassel beim Anspielen der Hertiecaster (Foto: Bassel)
Bassel beim Anspielen der Hertiecaster (Foto: Bassel)
Von Bassel El Hallak
Letztens steht ein lieber Kollege, der mit einem fast schon zwanghaften Drang für exotische, alte Instrumente gesegnet ist, vor meiner Studiotür und drückt mir mit den Worten “check die mal an bitte“ eine Gitarrentasche in die Hand. Einen Anspielbereicht für ein Special zu diesem Exoten möchte er gern haben…
In der Tasche erblicke ich eine wirklich alte Einsteigergitarre aus den 60/70ern, die inzwischen schon legendäre “Hertiecaster”. Natürlich wurde sie unter diesem Namen nie verkauft, aber da diese Billig-Kaufhaus-Gitarre ohne Markenlogo aus gleichnamigem Kaufhaus stammt, verpasste die Gemeinde ihr kurzerhand diesen Namen. Etwa 80 Euro hat der Kollege für sie bezahlt – kann das was taugen?
Mich interessiert vor allem, wie sie sich bespielen lässt, und wie sie klingt: Das Handling ist erstaunlich gut – allerdings wurde dieses Instrument vor meinem Test von einem Gitarrenbauer auch kurz auf Vordermann gebracht. Natürlich handelt es sich beim Korpusholz nur um Schichtplatten (was sie auch sehr, sehr leicht macht), aber die Bespielbarkeit ist wirklich super.
Ich muss gestehen, dass ich ein großer Freund von Billig-Gitarren bin, da die oft mehr Charakter haben, als so mancher Edelhobel für mehrere tausend Taler. Natürlich ist sie auch sperrig: Beispielsweise sollte man das Tremolo besser in Ruhe lassen und nötige Modulationen eher mit der linken Hand bewerkstelligen, indem man den Hals nach vorne und hinten drückt (natürlich äußerst sachte!). 
Am Amp zeigt sich dann, was wirklich in ihr steckt: Sie klingt clean einfach wundervoll! Da ist zwar eine satte Beule in den Mitten zu hören, aber die stört mich mal so überhaupt nicht – ganz im Gegenteil. Beide Pickups machen einzeln einen guten Eindruck, aber auch zusammen liefern sie einen tollen Sound. Am verzerrten Amp wird dann aber spätestens klar, dass man für einen wirklich authentischen Rocksound vielleicht doch zu den altbekannten Klassikern oder anderen Gitarren greifen sollte. Es sei denn, man sucht eben genau diesen unorthodoxen, unangepassten Sound. Ich steh drauf – guter Kauf, Ralf!
Audio Samples
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Clean – Halsposition Clean Funk – Mitte Clean – Stegposition Crunch – Stegposition Ein bißchen Heavy – Stegposition
Hot or Not
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(Foto: © bernie49/M-board)

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von uli.graf

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Profilbild von Stefan Boss

Stefan Boss sagt:

#1 - 14.11.2016 um 17:33 Uhr

0

Damlas war es die Hertiecaster heute die Gitarren von C Giant-> Jack und Danny alles kommt ein mal wieder

Profilbild von Mario Reitze

Mario Reitze sagt:

#2 - 26.10.2017 um 13:06 Uhr

0

Die Soundbeispiele sind wirklich interessant! Klingt ja wirklich gar nicht übel. im Gegenteil. Das zeigt mir doch einmal mehr, dass kreativ einzusetzender, guter Sound gar nicht nur von hochpreisigen Instrumenten kommen muss - sondern solche "Schrottexoten" und Flohmarktteile dazu ebenso dienlich sein können. Überdenkenswert insbesondere für viele der Muckerpolizei Abteilung nur Teures klingt.

    Profilbild von Christian

    Christian sagt:

    #2.1 - 27.06.2023 um 20:33 Uhr

    0

    Schaut mal, mit was Jack White so spielt. BTW; ich liebe die Washburns, die von 78 - 82 in Matsomuko gebaut wurder.

    Antwort auf #2 von Mario Reitze

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Profilbild von peter reimer

peter reimer sagt:

#3 - 25.12.2017 um 16:47 Uhr

0

Puuuh....keines der Klangbeispiele überzeugt mich...die Attribute "wundervoll" und "toller Sound" finde ich unpassend und übertrieben.

    Profilbild von Nils Oliver Adam

    Nils Oliver Adam sagt:

    #3.1 - 23.04.2023 um 13:32 Uhr

    0

    Anders als im schaltplan angegeben war zusätzliche kondensator als abschaltbarer hochpass geschaltet. Bei meiner Gitarre (4 pus) war der "Tremoloarm" erstaunlich gut zu benutzen. Sicher dank des Rollensattels, der dafür 2 andere nachteile hatte: Die Rollen waren so beweglich, dass sich beim Handauflegen der Abstand zwischen den Saiten ändern konnte. Viel schlimmer war, dass man die oktavreinheit nicht einstellen konnte. Auch der Saitenniederhalter am Kopf funktionierte besser als die schrecklichen klammern für h- und e-saite bei der (damaligen) strat. Angenehm fand ich, dass die Saiten schon bei vergleichsweise niedrigen Lautstärken zur Schwingung angeregt werden konnten.

    Antwort auf #3 von peter reimer

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Profilbild von Nils Oliver Adam

Nils Oliver Adam sagt:

#4 - 23.04.2023 um 13:32 Uhr

0

Anders als im schaltplan angegeben war zusätzliche kondensator als abschaltbarer hochpass geschaltet. Bei meiner Gitarre (4 pus) war der "Tremoloarm" erstaunlich gut zu benutzen. Sicher dank des Rollensattels, der dafür 2 andere nachteile hatte: Die Rollen waren so beweglich, dass sich beim Handauflegen der Abstand zwischen den Saiten ändern konnte. Viel schlimmer war, dass man die oktavreinheit nicht einstellen konnte. Auch der Saitenniederhalter am Kopf funktionierte besser als die schrecklichen klammern für h- und e-saite bei der (damaligen) strat. Angenehm fand ich, dass die Saiten schon bei vergleichsweise niedrigen Lautstärken zur Schwingung angeregt werden konnten.

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